Ich schaue gerne Menschen zu, was sie so machen. Zur Zeit tue ich das auf einer spanischen Insel im Atlantik, mal vom Balkon meiner kleinen Wohnung, mal von einem Straßencafé aus, beim Spaziergehen oder wenn ich in einem der Strandcafés mit Internetanschluss (hier sagen sie ‚Wifi‘ dazu) Mails erledige. 

Was machen die Menschen denn so? Beschäftigen sie sich mit sich selbst? Man sagt ihnen doch nach, dass sie egoistisch seien und vor allem mit sich selbst beschäftigt seien. Sind sie das wirklich? Ich finde, sie sind vor allem mit der Welt um sie herum beschäftigt. So wie jetzt gerade auch gerade ich: heute mit den Spaniern. 

Ausverkauf

Los Llanos ist der größe Ort auf der Westseite der kanarischen Insel La Palma. Er ist voller Kleidungs- und Schuhgeschäfte. Lebensmittelgeschäfte gibt es kaum mehr, das haben die großen Ketten übernommen, hier sind es Spar und SuperDino. Ein paar kleine Elektronikläden sieht man, da gibt es Smartphones mit Zubehör, und die Läden der Chinesen verkaufen (chinesische?) Billigware, wie zum Beispiel ein Paar Schuhe für 10 € und Krimskrams aller Art zu Preisen, dass man Alpträume bekommen könnte, was die vermuteten Arbeitsbedingungen in den Herstellungsländern anbelangt. 

Zur Zeit ist hier »Rebajas«, Schlussverkauf. Die Schaufenster der Klamotten- und Schuhläden kreischen dem Spaziergänger »Rebajas« entgegen, mit Schildern, wie groß die Rabatte sind, von 20 bis 70 Prozent. Ich staune über die Handelsmargen, die das offenbart, und über die Gier der Menschen, sich nutzlose Sachen zu kaufen, wenn sie nur scheinbar billig genug angeboten werden. Manchmal kommt es mir so vor, als sei es der Schlussverkauf der Ressourcen der Erde – man kauft und kauft solange es eben noch geht, ein bewusstlos Gefahren und Elend verdrängender Tanz auf dem Deck der Titanic: T-Shirts aus Bangla Desh, Ramsch aus China, unreif gepflücktes Obst von irgendwoher weit weg. 

El aspecto

Die Deutschen hier sind zumeist entweder Rentner, die den Lebensabend oder wenigstens den Winter auf einer warmen Insel verbringen wollen, oder es sind ökospirituelle Touristen, unter ihnen viele Aussteiger aus einer der heimischen Tretmühlen. Die hier einheimischen Spanier sind, soweit sie Campesinos sind, Landbewohner, von ihrem Bewusstsein her noch eher das, was man bei uns hinterwäldlerisch nennen würde, einem Touristen kann das durchaus romantisch anmuten. Hier in Los Llanos sind sie kleinstädtisch-provinziell, befruchtet durch die vielen Fremden, was eine interessante, teils recht kreative Mischung ergibt.

Der ‚aspecto‘, oje Aussehen, ist den Spaniern extrem wichtig, noch wichtiger als den Deutschen. Es bedeutet für sie: Klamotten kaufen, Schuhe kaufen (nach der Anzahl der Läden hier, müssen sie von Schuhen geradezu besessen sein); die meisten Frauen schminken sich so, wie die Mode es ansagt, für mein Empfinden eher grell; und fast alle legen Wert darauf, eine aktuelle Frisur zu haben – es gibt hier anzählige Friseure, vor allem Friseure für Frauen; wenn es ’nur‘ Männerfriseure sind, steht das extra dran: peluqueria caballeros. Meist tragen die Frauen langes, oft künstlich gelocktes Heer, die Freaks auch gerne rastamäßig oder in grellen Farben, ähnlich wie bei uns; die Männer sind seitlich hochrasiert, viele sogar kahlgeschoren. Das Hochrasierte gefällt mir gar nicht, es erinnert mich hat soldatische Männlichkeit. Auch die jungen Afghanen bei uns im Connectionhaus sind überwiegend so rasiert und legen großen Wert auf ihre Frisur, aber sie sind friedlich, das mildert meine Abwehr gegen diese Mode. 

Warum so viel Wert auf’s Aussehen? Money makes the world go ‚round, und das gilt auch für Sex, auch in Spanien. Über Sex an anderer Stelle mehr.

Ernährung und Sport

Die meisten Spanier ernähren sich schlecht. Sie sind von Zuckerwasser (Coca Cola & Co) und industrieller Ware (processed food) gemästet, von Weißmehl, Zucker, Nahrung in Dosen, Gläsern und Tüten, tiefgekühlten Fertigpizzen usw, so werden sie dick und wabbelig; dann bemühen sie sich dann unter sozialem Druck Sport zu treiben, um abzunehmen und gut auszusehen – el aspecto. Als Nächstes sind sie dann von Sport und Diäten besessen. Jedenfalls hier auf La Palma ist Spanien sportbesessen: Männer wie Frauen joggen, radeln und gehen in Fitnessstudios. Leistung zählt, Entspannung kaum, das kommt vielleicht noch. Kürzlich war ich in einem Meditationskurs im zentralen Museum, im museo archeologico, einem der wenigen modernen Prachtbauten des Ortes, um mir eine Meditationsanleitung mal auf spanisch anzuhören; der Kurs war kaum besucht, obwohl kostenlos.

Konsumkapitalismus 

Warum beschäftigen sich die Menschen nicht mit sich selbst? Erschreckt sie das zu sehr? Lieber lenken sie sich durch Fernsehen, Internetsurfen, soziale Netzwerke, Smartphone-Smalltalk und Lektüre ab. Oder sie wählen gerade unter mehr als 20 Shampoos das richtige aus, finden den für sie richtigen Haarfestiger und die saisonal korrekte Tönung. Sogar die ethisch hoch motivierten Veganer müssen inzwischen unter mehr als fünf Soyadrinks auswählen und fragen sich dabei, ob Soyadrinks überhaupt politisch korrekt sind. Auch Spiris und Psychos lechzen nach der richtigen Diät, sogar das Salz muss heutzutage aus dem Himalaya kommen oder wenigstens hundert Millionen Jahre alt sein (– hat Salz ein Alter?). Jedes Halbjahr gibt es neue Modefarben und Kleidungsstile, während für die Menschen auf dem Selbsterfahrungsweg die aktuellen Diagnosemethoden und jeweils aktuellen ganzheitlichen Therapien Gesprächsthema sind, auch da wechselt eine die andere ab wie Kleidungsmoden. 

Welche Subjekte es sind, die alle diese Objekte konsumieren oder sie an sich vorüberziehen lassen, das scheint die Menschen nicht wirklich zu interessieren. Nur in Momenten des Schocks und tiefer Enttäuschung, bei Trauer und Verlust, beginnt eine gewisse Beschäftigung des Menschen mit sich selbst. 

Dem Konsumkapitalismus kann das nur recht sein. Er fördert das Bedürfnis, sich abzulenken, er braucht es geradezu. Ohne die ständige Beschaffung neuer, künstlicher Bedürfnisse könnte die Wirtschaft nicht immer weiter wachsen, könnten die großen Vermögen nicht weiterhin Rendite erwirtschaften, und so wird weiterhin die Natur zerstört und die Menschen in ihren Hamsterrädern werden verbraucht, sogar die zunehmenden Burnoutfälle tragen noch zum erwünschten Umsatz des Medizinbetriebs bei. 

Warum hat der teils mehr aus tausendprozentige Produktivitätszuwachs der Wirtschaft in den vergangenen hundert oder zweihundert Jahren die Menschen nicht glücklicher gemacht? Nicht einmal die Armut ist dadurch beseitigt worden, obwohl wir auf der Erde längst genug Nahrung, Dinge und Maschinen für alle haben, eigentlich dürfte niemand über Mangel an Materiellem leiden. 

Brot und Spiele

Überall an den Straßen sehe ich Lotterieverkäufer. Manchmal gehen sie in die Restaurants und Bars hinein wie Bettler, die ihre Hand aufhalten. Andere sitzen in dunklem Anzug vor einem der Discounter und gebärden sich mit ihrem Bouquet von Scheinen, billigen und nicht ganz so billigen, wie Verkäufer von Versicherungen. Sie bieten kleine Scheine für wenig Geld, die das große Glück versprechen. Obwohl jede vernünftige Wahrscheinlichkeitsrechnung ergibt, dass dabei die Lotterie gewinnt, nicht der Spieler, sind die Spanier verrückt danach, und die Ziehung der Lottozahlen nimmt im Fernsehen großen Raum ein. Sogar die wenigen Einzelnen, die dabei reich werden – die Topgewinne betragen Millionen von Euros pro Los – sind die Gewinner danach kaum glücklicher, sagt die psychologische Forschung. Es wäre besser, die Leute würden ihr Geld behalten. Aber die Sehnsucht, das Glück und die – zumindest subjektiv empfundene – Armut sind da, auch die Gier, und dann versucht man es halt, wider alle Logik. 

Und in den Bars schauen sie Fußball. Brot und Spiele, das hat die Menschen schon immer beschäftigt gehalten; es hat politische Revolten verhindert und es hat sie abgelenkt von sich selbst. 

Körper und Seele

»Der Minister nimmt flüsternd den Bischof beim Arm: Halt du sie dumm, ich halt’ sie arm!« sang einst Reinhard Mey in seinem Lied »Sei wachsam«. Das Lied ist heute noch ebenso gültig wie damals, auch wenn die Kirchen heute in Deutschland viel weniger Macht haben, und das gilt auch für Spanien. Heute wird eher Mammon angebetet als Gott oder die Madonna, auch in Spanien ist das so und in Lateinamerika. Heute hat der Konsumkapitalismus mit seinen Werbemedien die Macht nicht nur über Arbeit, Ernährung und Gesundheit, sondern auch über die Seelen.

Spiritual Bypassing

Beschäftigen denn wenigstens die Spiris sich mit sich selbst? Ja und nein. Auch unter den spirituell Praktizierenden gibt es Methoden der Ablenkung und Vermeidung. Der buddistisch orientierte US-amerikanische Psychotherapeut John Welwood – ich hatte in Connection ein paar Mal Texte von ihm – nannte dies »Spiritual Bypassing«, spirituelles Vermeiden, Drüber-hinweg-Gehen. Kürzlich stand auf der Webseite der Berliner Zeitschrift »Sein« hierzu ein Text von dem US-amerikanischen Ex-Anwalt Jeff Brown. Im Original findet ihr ihn auf elephantjournal.com.

Sind Fernflüge okay?

Jetzt noch was Praktisches: Ich habe ein kleines Apartment in Los Llano abzugeben, ab 26. Februar bis 5. April oder länger. Hier wohne ich jetzt, aber am 26.2. ziehe ich um nach Puerto Tazacorte. Das Apartment kostet 100 € / Woche. Wer für diese fünf (oder mehr) Wochen eine Auszeit auf einer südlichen Insel geplant hat, kann das über mich (per Mail an schneider@connection.de) günstig bekommen. Warum ich (ansonsten) nicht für Fernflüge werbe und wie sich das für mein Ökogewissen darstellt, dafür brauche ich ein paar Worte mehr und will das in einem eigenen Blogeintrag abhandeln, bald.