Mit unserer Retreat-Gruppe haben wir nun auch das Retreat am Ganges in Rishikesh abgeschlossen. Es erstaunt mich immer wieder, welche Atmosphäre sich hier am südlichen Rand des Himalayas auftut. Aus der Höhe auf den Flusslauf zu schauen, lässt erahnen, wie Millionen Jahre lang die Schmelzwasser der Gletscher Schluchten in das Gestein gefräst und geschliffen haben.

Am Rand des Himalaya

Hier unten am Fuß der Bergriesen sind die Flusstäler schon breit. Sie mäandern sanft alle fünfhundert Meter um die nächste weiche Biegung. Das Flussbett mit seinen Gesteinsbrocken und weiß leuchtenden Sandstränden ist hineingeschmirgelt. Türkis leuchtend strömt das Wasser bergab. Manchmal in Stromschneller weiß aufblitzend und tosend. Dann wieder still gleitend mit kleinen Wellen und Wirbeln. An manchen Stellen erscheint die Oberfläche spiegelnd glatt und doch schieben sich die Wassermassen unaufhaltsam weiter und weiter voran.

Das zu beobachten, lässt die sanfte und dennoch starke Kraft „Gangas“ spürbar werden. Der Fluss Ganges wird hier in Indien als weibliche Gottheit „Ganga“ verehrt. Auch im alltäglichen Gebrauch gilt dieser Name. Nichts macht wohl das kosmische Grundgesetz des „Panta rhei“ („alles fließt“) so unmittelbar erfahrbar wie die Naturerscheinung eines Flusses. Vom griechischen Philosophen Heraklit stammt die Aussage „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“ Ganga ist die pure Demonstration dessen. Jede Sekunde neue Wassermassen. Jede Sekunde eine andere Wellen. Andere Strömungen. Andere Wirbel.

Göttin Ganga

Dieses Strömen hat eine reinigende Kraft. Das macht schon die mythologische Geschichte deutlich, die die hinduistische Religion über Ganga erzählt: Es gab eine Zeit in der die Göttin Ganga auf die Erde hinabblickte und entsetzt war. Sie sah, wie die Menschen von Täuschung, Gier, Hass und anderen geistigen Übeln befallen waren. Sie erkannte, wie das Zwietracht und Leid erzeugte. Um die Menschheit von diesem Elend zu befreien, wollte Ganga als eine gewaltige, reinigende Flut auf die Erde herabzustürzen. Der Gott Shiva bekam von Gangas Absicht mit. Als Gott der Vernichtung aller Unwahrheit kannte auch er die reinigende Kraft der Zerstörung von Irrglaube und Verwirrung. Doch ihm wurde auch klar, dass Gangas machtvolle Fluten die Menschheit nicht nur reinigen, sondern auch vollständig auslöschen würden. Aus Mitgefühl für die Menschen fing Shiva Ganga in seinen langen Haaren ein. Dann formte er seine Mähne zu einem Haarknoten und ließ die Fluten Gangas durch seine Haare kreisend um seinen Kopf sanft auf die Erde herab gleiten. So blieb die reinigende Kraft Gangas erhalten, wurde aber zugleich in ein sanfteres Strömen überführt. Man spürt die Ahnung einer universellen Naturmystik von standhaftem Berg und bewegtem Fluss in dieser Geschichte.

Aber auch jenseits von Geologie und Mythologie ist in der Nähe des Flusses die mystische Stimmung eines meditativen Gewahrseins zu spüren – zumindest für diejenigen, die sich ihr öffnen. Es ist als würde Ganga stetig rufen: „Ich spüle Alles hinfort! Ich spüle Alles hinfort! Was willst du loswerden? Übergib es mir! Ich spüle Alles hinfort!“ Am Ufer zu sitzen eröffnet somit eine natürliche Meditation: Stressige Gedanken. Leid erzeugende Glaubensmuster. Einschränkende Vorstellungen. Belastende Gefühle. Grübeln. Sorgen. Alles das kann hier an den Fluss abgegeben werden. Ganga spült es hinfort. Man bleibt erleichtert zurück.

Wünsche lassen

In einem Ritual zur Feier von Gangas wird das allabendlich zum Beispiel in dem bekannten Ashram „Parmath Niketan“ im Dorf Rham Jhula nachvollzogen. In Zeremonien mit hingebungsvollen Gesängen wird Ganga geehrt und die Dankbarkeit für sie zum Ausdruck gebracht. Wer mag, kann danach ein aus Blättern gebasteltes, Handteller großes Bötchen für wenig Geld erwerben. Es ist mit hübschen Blumen und einem Wachslicht bestückt. Das Licht wird entzündet. Dem traditionellen Verständnis nach gibt man auf diese Weise ein Gebet oder einen Wunsch in das Boot. Dann wird es der strömenden Ganga überlassen. Sie trägt es fort und soll den Wunsch erfüllen.

Für viele Menschen spielt dabei wohl magisches Denken eine Rolle. Sie hoffen auf die Erfüllung ihrer persönlichen Wünsche durch eine äußere göttliche Instanz. Doch dasselbe Ritual kann auch anders gedeutet werden. Gemäß der integralen Kurzunterscheidung von Magie und Mystik: „Magie will haben. Mystik will lassen.“ In demselben Ritual kann auch eine – das prärationale und rationale Denken überschreitende – transrationale Erfahrung gesehen werden: Man gibt das Leid erzeugende Verlangen des Egos in das Boot. Man legt seine Wünsche ab. Nicht um sie erfüllt zu bekommen, sondern um sich von ihnen zu befreien. Man lässt die Wünsche gehen. Man wird sie los. Man wird wunschlos.

Ego schleifen

Aber auch ohne Ritual kann man in der Nähe von Ganga deren mystische Kraft spüren. Es ist als würde eine riesige Walze entleerender Energie alles hinwegspülen. Manchmal kann das Angst auslösen. Denn nicht nur die Sorgen werden einem genommen, sondern auch Pläne, Hoffnungen, lieb gewonnene Selbstbilder und Identifikationsmuster. Und – nicht zu vergessen – auch das letzte „spirituelle High“ oder die noch so „tolle spirituelle Erkenntnis“ gehen den Bach, bzw. den Fluss, runter. Eben wirklich Alles! Lassen wir aber die Angst vor radikaler Auslöschung ganz zu, transformiert sie sich in Ehrfurcht vor der Macht der Vergänglichkeit. Sie kann einem jederzeit alles entreißen.. „Pantha rhei“ bedeutet eben auch „Nichts ist sicher“. Heißen wir die Unberechenbarkeit des Lebens willkommen, spüren wir die kribbeln der Lebendigkeit, die in der Unsicherheit liegt. Und wir bekommen einen Zugang zu der tiefen Gelassenheit darunter.  

Das Naturbild des Flusses bietet sich auch für die Beschreibung von Hingabe auf dem spirituellen Weg an: Stellen wir uns vor, unser Ego hätte die Gestalt eines schweren, unförmigen Gesteinsbrocken. Der Brocken selbst glaubt daran, feste und beständige Ränder zu haben. Er ist auch davon überzeugt, seinen Weg selbst bestimmen oder der Bewegung des Lebens Widerstand leisten zu können. Doch beides ist Illusion. Steigen die Fluten eines mächtigen Flusses, werden auch riesige Steinbrocken mitgerissen. Sie schlagen gegeneinander. Werden aufgebrochen. Zerbersten in kleinere Steine. Unter der Kraft des Wassers schwindet der Ego-Brocken mehr und mehr dahin. Er wird zu einem Handschmeichler geschmirgelt. Dann zu Flusssand zermahlen. Schließlich trägt ihn der Strom ins Meer, wo sich Fluss und Sand selig in der Weite des Ozeans verlieren. So könnte man die spirituelle Kraft Gangas beschreiben. Sich ihr auszusetzen ist die Hingabe, die hier sowohl in der traditionell religiösen Verehrung von Shivas und Gangas. als auch in der Kombination von transpersonaler Selbsterforschung und mystischer Stille spürbar wird. Denn hier offenbart sich mit dem Verweilen am Fluss nicht nur das ewige Kommen und Gehen aller Erscheinungen. Während man am Ufer die Vergänglichkeit betrachtet wird auch der Zeuge allen Geschehens klarer: Das stets anwesende Gewahrsein. Es bleibt unverändert. Es ruht unvergänglich in sich selbst. Dieser Zeuge ist kein „Er“, „Sie“ oder „Es“. Das Zeugenbewusstseins hat kein Alter. Kein Geschlecht. Keine Form. Es ist kein Bild. Kein Gedanke. Keine Emotion. Und keine Körperempfindung. Denn all diese vermeintlich festen Erfahrungen und Identitäten fließen stets den Strom hinab. Das Zeugenbewusstein aber bleibt bestehen. Es wurde nicht geboren und stirbt deshalb auch nicht. Und selbst die Begrifflichkeiten „Zeuge“, „Zeugenbewusstsein“ oder andere Namen wie „Urgrund“, „reines Sein“ sind nur Worte, die im Fluss wieder entgleiten. Sogar die Vorstellungen eines Flusses und eines Ufers, eines Ichs und einer Welt verschwinden schließlich. Somit sorgt Ganga dafür, dass sie das Bewusstsein des Betrachters auch von ihrer eigenen Vorstellungsform reinigt. Das macht sie umso göttlicher. 

Jai Shiva, Jai Ganga 
Om Shanti Om

Torsten Brügge, Rishikesh, 28.3.2016