Es war im Spätsommer 1975 an einem kleinen Ort der türkischen Südküste. Ein paar Teehäuser gab es dort und eine Herberge. Vielleicht nur eine, so genau weiß ich das nicht mehr, es ist ja schon fast 44 Jahre her. Ich war der einzige Tourist in dem Ort. In der Herberge hatte ich kein kleines Zimmer mit einem Bett, dessen Untergrund, auf dem die Matratze lag, eine Art Metallnetz war, das sehr tief durchhing.
Dort lag ich gegen Mittag oder Nachmittag auf dem Bett in dieser tiefen Kuhle und wurde auf einmal von einer langgezogenen, selbständigen Atmung ergriffen, die ich nicht initiiert hatte. Vom Bauch ausgehend durchflutete mich dieser Atem mit einem tiefen Wohlgefühl. Sowas hatte ich noch nie erlebt, nicht bewusst jedenfalls. Es ergriff mich einfach, ich war es nicht, der das machte; »es« geschah und fühlte sich sehr, sehr gut an.
Dieses Erlebnis speicherte sich bei mir unter »türkische Südküste« ab. Ich war als Alleinreisender mit ein paar spirituellen Büchern im Gepäck trampend Richtung Indien untewegs. An dem Ort waren sonst nur Türken, eine männliche Gesellschaft, ländlich, nix los. Ich konnte damals ein bisschen türkisch, fragte und erfuhr, dass einige der Männer Holzfäller, waren, die in den nahen Bergen Holz holten,. Obwohl es direkt am Ort kaum mehr Bäume gab. Eine trockene Gegend, Spätsommerhitze. Ich hatte eine Klarinette dabei, und wenn ich abends allein am Meer war, spielte ich dort gerne ein bisschen; am liebsten bei Vollmond, so habe ich es in Erinnerung. Aber vor allem das Bett mit der tiefen Kuhle und der wohligen Bauchatmung hat sich in meiner Erinnerung eingenistet.
Vipassana
Nächste Szene: Ich bin in Thailand in einem buddhistischen Kloster, das von einem Abt geleitet wurde, der bei Mahasi Sayadaw gelernt hatte. Es musst im April des Folgejahrs gewesen sein, 1976, also etwa sieben Monate später. Ich war in einem zweiwöchigen Vipassana-Retreat, das dort auch für Westler (»farang«) angeboten wurde. Schon nach ein paar Tagen des genauen Befolgens der Meditationsanweisungen hatte ich wieder dieses Gefühl der Ergriffenheit. »Es« durchfuhr mich, führte mich, ließ mich in Ekstase still werden und staunend dort verweilen. Das Gefühl blieb für Stunden, auf- und abschwellend, immer wieder verblassend, sogar für Tage, und hinterließ in mir den Wunsch buddhistischer Mönch zu werden. Was ich in den Folgemonaten dann auch verwirklichte.
Heute würde ich beides mystische Erfahrungen nennen. Dass man es so nennen könnte, vielleicht müsste, fiel mir erst ein, nachdem ich irgendwo in Asien William James »The Varieties of Religious Experience« (Erstausgabe 1902) in die Hand bekommen hatte. James beschrieb in dem Buch mystische Erfahrungen von Menschen sehr verschiedener kultureller Kontexte und fand, dass sie einander ähnlich sind. Ja, das sind sie: Ich habe in den Jahren „nach der türkischen Südküste“ in christlichen, sufischen, buddhistischen und hinduistischen Kontexten mystische Erfahrungen gehabt, und auch ohne religiösen Kontext, vor allem allein in der Natur, aber auch mit Menschen.
Morgens im Bett auf La Palma
Gestern morgen lag ich auf meinem Bett in der Wohnung, die ich für diesen Winter in Puerto Tazacorte an der Westküste von La Palma gemietet habe (das Foto oberhalb dieses Blogeintrags ist nicht von der türkischen Südküste, sondern von Puerto Tazacorte auf der Westseite der Insel La Palma; vom Weg durch die Felsen oberhalb dieses Ortes aufgenommen, der mal ein Fischerdorf war und jetzt ein Touristenort ist). Mein Schlaf hier ist meist tief und lang, nach dem Aufwachen kann ich mich oft an den letzten Traum erinnern. Ich muss hier nicht gleich aufstehen, was für ein Luxus – und bleibe dann gerne noch liegen, mich räkelnd und …. da ist es wieder, dieses Gefühl von der türkischen Südküste. Meine Bauchdecke schiebt sich weit vor, der Atem wird weit, ein Glücksgefühl durchströmt meinen Körper. Es blieb diesmal für vielleicht ein bis zwei Stunden – Zeitlosigkeit lässt sich so schlecht messen. Erst im folgenden häuslichen Alltag (Klo, Dusche, Frühstück) verblasste es.
Hat es mit dem Meer zu tun? Ich sitze so gerne nahe am Meer und schaue den Wellen zu, wie sie sich noch einmal aufbäumen und dann am Strand verenden, eine nach der andern, unablässig. Es gibt auch sehr große Wellen, die von weit her kommen. Sie kommen mit oder ohne Schaumkronen und bestehen doch alle aus demselben Salzwasser. Von der Form her machen sie groß was her – bis sie dann enden, eine nach der anderen. So individuell wir Lebewesen auch auftreten, wir sind nur Biomasse in einem Zyklus zwischen Humus und lebendem Organismus. Zwischendurch vielleicht mit ein bisschen Amalgam und anderem Sondermüll verunreinigt, aber dann doch wieder fast reiner Humus. Oder erstmal Asche, je nach Bestattungsmodus.
Die Achse, um die sich mein Leben dreht
Zwischen damals an der türkischen Südküste und heute habe ich viele mystische Erlebnisse gehabt (nein: sie hatten mich). Habe sie halten wollen und doch nicht halten können. Um sie drehte sich mein Leben, emotional und geistig. Teils auch beruflich, weil ich als Autor und Publizist ‚was draus machen‘, es mitteilen wollte. Ich habe diese Erlebnisse in der Liebe gesucht, im Sex, im Tanz, beim Lesen und Zuhören, in der Musik, beim Arbeiten und im Faulenzen. Als ich mir 1987 auf der Dachterasse des kleinen Connection-Verlagsbüros in München, Reichenbachstraße 26, eine Hängematte angeschafft und dort ‚auf Dauer‘ aufgehängt hatte, war das Gefühl der mystischen Gebogenheit beim sanften Schwingen in der Hängematte so stark und fast verlässlich, dass ich dachte: Dies ist mein Retreat-Platz. Aber es kommt doch nicht immer, es lässt sich nicht einfangen. Hingabe ist der Zugang, kontrollieren kann man es nicht.
Fenster zum Himmel
Tanz, Liebe, Sex und das Lesen spiritueller Schriften und noch vieles andere waren und sind für mich »Fenster zum Himmel«. Auch das Gehen und das Verfolgen meiner Gedanken und dessen, wem oder was sich meine Aufmerksamkeit gerade zuwendet. Auch das Beoachten von Menschen, wie sie »sich aufführen« kann in eine süße Trance versetzen und insofern etwas Mystisches sein. Dazu sitze ich gerne in Straßencafés oder wo auch immer ich Menschen zusehen kann. Solch ein entrücktes Zusehen ist viel unterhaltsamer als Fernsehen. Neuerdings immer mehr praktiziere ich auch (als Buddhist braucht man »eine Praxis«, grins): Sprache verstehen. Das heißt, ich beobachte das Auftreten und Verenden sprachlicher Signale. Das könnten Laute sein oder Zeichen, die aus Buchstaben bestehen. Alle sprachlichen Signale, alles, was Bedeutung hat, ist eingebettet in eine Umgebung, einen Kontext, der sie trägt. Aus dem heraus entstehen sie, und in den sterben sie nach ihrem Auftritt auch wieder hinein. Danach ist es wieder still. Zwischen zwei Lauten ist es immer still, zwischen zwei Signalen ist nichts – Offenheit, Bereitschaft, Leere, Wartezeit –, bis wieder ein Signal auftaucht, das etwas will: verstanden werden. Signale sind Dinge oder Ereignisse, die etwas anderes bedeuten als sie sind und in dieser Bedeutung verstanden werden wollen (so als hätten sie einen eigenen Willen; den haben sie natürlich nicht, sondern Sender und Empfänger haben einen solchen Willen nach Verständigung; manchmal gelingt das auch ein bisschen.)
Eine Kreation aus der Erinnerung
Das Bauchgefühl von der türkischen Südküste ist für mich eine Chiffre, ein Wiedererkennungssignal von etwas für mich Bedeutsamem. Vielleicht sowas wie Filz und Fett für Joseph Beuys? Die Geschichte von Beuys’ Rettung durch Filz und Fett, verabreicht von schamanischen Tataren nach seinem Flugzeugabsturz im Frühjahr 1944 auf der Krim sei eine Legende, heißt es. Ist meine Erinnerung an das durchgebeulte Bett an der türkischen Südküste auch eine Legende? Als ich vorhin »Alanya« in der deutschen Wikipedia nachschlug, schien es mir fast so, denn in meinem Ortsnamensgedächtnis war Alanya aufgetaucht. Alanya aber ist heute eine Großstadt. Unwahrscheinlich, dass das 1975 noch ein Holzfällerort war. Dann wird der Ort meiner Initiation in die Mystik wohl ein kleinerer Küstenort gewesen sein. Egal. Das Erlebnis in dem ausgebeulten Bett aber halte ich für faktisch wahr. Daraus habe ich nun eine Erzählung kreiert, so gut und faktisch genau ich konnte. Eine von vielen faktisch wahren Möglichkeiten, etwas Erlebtes zu erzählen.