„Transnationale Weltheimat“ klingt für mich nach einem wunderbaren Begriff. Er stammt von dem Autor Wolfgang Aurose. Von ihm habe ich unten einen lesenswerten Text zur aktuellen politischen Lage nach der Wahl von Trump eingestellt.

Zuvor ein paar einführende Worte: Aus einem integralen Verständnis stellt eine „transnationale Weltheimat“ ein mögliches Entwicklungspotential des menschlichen kollektiven Bewusstseins da. Es entfaltet sich in immer größeren Kreisen des Mitgefühls und der Verbundenheit aller Wesen – von Stammesbewusstsein, über ethnische und religiöse Zugehörigkeitsidentitäten, hin zu rational aufgeklärtem Humanismus und Pluralismus in Nationalstaaten. Darüber hinaus eröffnet sich – zumindest als Potential und in Teilen schon verwirklicht –  ein umfassendes systemisches Bewusstsein und weitere Bereiche, die auf ein integrales, universelles Gemeinwohl zielen.

Eine Transzendenz von nationalem Bewusstsein hin zu erweiterten Sphären – so Aurose –  braucht aber gleichzeitig eine integrierende Achtung aller nationalen Seelenqualitäten. Das wird im integralen Modell von Ken Wilber mit der Kurformel „Transzendieren UND Integrieren“ oder „Überschreiten UND Bewahren“ beschrieben. Werden die nationalen Identitäten – sowohl deren gesunden, als auch pathologischen Qualitäten – abgespalten oder verleugnet, ist dies Ausdruck eines unvollständigen Wachstumsprozesses. Das erschwert oder verzerrt die Entwicklung hin zu nächsten Bewusstseinsebene.

Hin und Her zwischen Transzendenz und Regression

Meiner Ansicht nach erleben wir global in diesen Zeiten ein Hin- und Herschwingen. Einerseits gibt es Tendenzen der Transzendenz von Nationalbewusstsein zu einer globalen Bewusstseinskultur des „Weltbürgers“. Doch für viele Menschen scheint dies noch „zu schnell“ oder „verfrüht“ zu sein. Und teilweise Geschehen die Schritte der Transzendenz des Nationalen vielleicht auch ohne Rücksichtnahme auf die Integration nationaler Interessen und mit Verzerrungen durch neo-liberale Einflussnahme. Das könnte man zum Beispiel bei einigen aktuellen Problemen der EU vermuten.

Besonders erschwert wird die Erweiterung über das Nationale hinaus, wenn die Schattenaspekte der Nationen im individuellen und kollektiven Bewusstsein noch ungelöst sind. So kommt es auf der anderen Seite zu bedauerlichen Rückschwingungen in aggressiven Neo-Nationalismus, welche die Verunsicherungen eines neuen, erweiterten Bewusstseins durch rigides Festhalten an alten Wertvorstellungen zu kompensieren versucht oder sogar zu ethnozentrierter, religiös-fundamentalistischen Regression führt.

Die starken Migrations- und Flüchtlingsbewegungen und das Wohlstandgefälle sowohl zwischen Nord- und Südländern, als auch innerhalb der wohlhabenden Gesellschaften, beflügeln diese Verunsicherungen noch – teilweise auch auf sehr verständliche Weise. Zugleich wird der Rückzug in nationale Abschottung erforderliche globale Lösungen wohl kaum fördern, sondern eher verhindern.

Umso wichtiger sind Ansätze, wie die von Aurose. Er betont, dass auch natürliche nationale seelische Qualitäten Wert geschätzt werden müssen. Vielleicht kann man damit zumindest einige der „Patrioten“ abholen, denen eine nationale Identität immer noch als Hauptschwerpunkt ihrer Identifikation dient, ohne dass die Liebe zur eigenen Kultur in völkischen Nationalismus verzerrt werden muss.

Hier nun der Text von Aurose, der mich zu den obigen Reflektionen und Kommentaren anregte:

Text von Wolfgang Aurose

(mit freundlicher Genehmigung des Autors)

Trumps Machtantritt in den USA scheint auch in anderen Ländern rückwärts gewandten Populisten Aufwind zu geben. Die soziopathologische Verkennung deutscher Realität, so wie sie in dem jüngsten Kommentar des AfD-Anführers Bernd Höcke zum Ausdruck kommt, veranlasst mich zu diesem Blog.

Der/die neue Deutsche

Jeder kann sehen, dass wir uns in der Abfolge unserer Lebensalter nicht nur in unserem Äusseren verändern, sondern dass auch in unserer Persönlichkeit jeweils verschiedene Merkmale in den Vordergrund treten. Dem vergleichbar unterliegen auch menschliche Gemeinschaften einem ständigen, der Evolution der Erfahrung und des Älterwerdens folgendem Wandel. Die Werte und die Kultur eines Landes nehmen so im Laufe der Zeit unterschiedliche Erscheinungsformen an.

Ein Blick in die deutsche Geschichte kann Beispiel geben: Ein spätmittelalterlicher deutscher Landsknecht unterschied sich nicht nur in seinem Äusseren von den feingeistigen Romantikern und Idealisten des 19. Jahrhunderts oder den betulichen Haushältern der Biedermeier-Epoche. Doch diese Ahnenreihe umfasst auch den fanatisch gehorsamen SS-Mann und reicht bis zum postmodern zynisch-engagierten Zeitgenossen der deutschen Gegenwart.

Angesichts dieser kulturellen Typenvielfalt ist es ein Mysterium, dass wir zugleich beim Einzelnen wie bei Gemeinschaften über die Zeiten bzw. Lebensalter hinweg eine innere Identitätswahrung beobachten können. Es ist eine Art sich entwickelndes und dennoch sich gleichbleibendes und jeweils einzigartiges Grundprofil. Wir können es ein seelisches Identitätsfeld nennen, woraus immer es bestehen mag.

Diese Veränderungen erfolgen sowohl in Anpassung an wechselnde Umstände als auch in Konsequenz aus eigenen seelischen Erfahrungen. Oft gelingt diese evolutionäre Anpassung nur unzureichend. Beim Einzelnen mutet es dann seltsam an, wenn er sich als 20jähriger noch wie ein Kind aufführt oder als 70jähriger balzt wie ein Teenager. Es wirkt wie eine zumindest teilweise Verweigerung innerhalb der Persönlichkeit, älter und “erwachsen”, d.h. auch reifer zu werden. Wenn es überhand nimmt, lachen oder ärgern wir uns über diese Menschen und nehmen sie zumindest in diesem Punkt nicht für voll.

Diese Art von “subjektiver Realitätsverweigerung”, also eine mangelnde Anpassung an die eigene seelische und physische Gegenwart, lässt sich auch auf nationale Gemeinschaften übertragen. Wenn heute z.B. einige Mitbürger in Deutschland eine längst überholte völkisch-ethnische Selbstdefinition des Landes fordern, einhergehend mit der Festschreibung auf – in Wirklichkeit ebenfalls längst in den Hintergrund getretene – christlich-abendländische Kulturformen, dann entspricht dieser Teil der Gesellschaft den stehengebliebenen, nicht reifer werden wollenden oder könnenden Persönlichkeitsanteilen des Einzelnen. Der gesunde Kern der deutschen Gesellschaft, d.h. des sich entwickelnden seelischen Identitätsfeldes der Deutschen, ist in seiner Gegenwart angekommen. Er hat ein relativ erwachsenes Land geschaffen, offener, mitfühlender, selbstkritischer und freier als wohl jemals zuvor in seiner Geschichte. Es ist nicht zufällig; Die Deutschen sind nicht zuletzt durch bittere Erfahrung an diesen Punkt gekommen, vor allem aber haben sie aus diesen Erfahrungen einige seelische Konsequenzen gezogen und sich damit weitentwickelt.

Dieses relativ geklärte, deutsche Identitätsfeld ist verständlicherweise für viele Menschen aus anderen, noch mehr mit sich selbst verstrickten Ländern sehr anziehend. Sie kommen auch deshalb, nicht nur wegen Arbeit, Sicherheit und Kindergeld. Deutschland ist, so wie es als Entwicklung letztlich für jedes Land ansteht, heute im wesentlichen über seine historische völkische und mythisch-kulturelle Herkunft hinausgewachsen. An diesem Punkt seiner Geschichte ist es dabei, sein tieferliegendes, seelisches Identitätsfeld zu entdecken. Es ist der Moment, an dem sich eine Nation zunehmend durch ihre selbstbestimmten Werte definiert und sich ihre kollektivseelischen Erfahrungen bewusst macht.

Das aktuelle Beispiel der USA kann dabei zeigen, dass für diesen Schritt jedoch eine multikulturelle und multiethnische Selbstdefinition der Nation alleine nicht ausreicht. Das Land wird sich nicht weiterentwickeln, wenn es nicht zugleich die Bereitschaft aufbringt, seine eigenen historischen Erfahrungen selbstkritisch aufzuarbeiten und daraus seelische Konsequenzen zu ziehen. Dann erst kann Integration wirklich gelingen. Das ideale Pendant ist der Immigrant, der dem Feld eines für ihn neuen Landes beitritt, wenn er aufgrund seiner eigenen seelischen Entwicklung genügend Berührungspunkte mit seiner neuen Heimat aufweist. So fremd seine Herkunftskultur und Ethnie auch sein mögen.

Ein „Neudeutscher“ wie der iranischstämmige Autor Navid Kermani erweist sich heute als viel zeitgemäß “deutscher” als ein Bernd Höcke. Dieser AfD- Politiker ist zwar hier geboren, aber er zeigt sich durch seine Kommentare als dem Teil der Bevölkerung zugehörig, der nicht in der Lage oder willens ist, seelisch erwachsen zu werden. Kermani dagegen ist deshalb ein gutes Beispiel, weil er sich als liberaler und pragmatischer Denker zeigt und zugleich tiefe und mystische Seiten in sich anklingen lässt. Eine Art Doppelbegabung, die viele ernstzunehmende inländische wie ausländische Beobachter als kennzeichnend für das Potential des deutschen Seelenfeldes ansehen. Es ist so betrachtet nur folgerichtig, dass Kermani unlängst als Kandidat für das anstehende Bundespräsidentenamt vorgeschlagen wurde.

Höcke und seine Anhänger dagegen bilden Teil des deutschen Schattens. Ohne Zweifel gehört auch der Schatten zum Land – aber er bedarf der Heilung und der Klärung. Einfach abspalten (“Mit denen reden wir nicht!”) lässt er sich nicht. Schattenarbeit wird zunächst darin bestehen, dem in einer vergangenen Entwicklungsphase (in dem Fall: des Landes) festgehaltenen Teil wirklich zuzuhören. Keineswegs heisst das dessen heute Unheil säenden Worten und Parolen Raum zu geben, sondern es geht darum, die dahinterliegende, sozusagen “stehengebliebene Wahrheit” zu verstehen. Der nächste Schritt wäre dann, diesen Teil bzw diese Menschen in die Gegenwart zu bringen. Das kann bedeuten, sie nicht nur seelisch, sondern gegebenenfalls auch konkret und materiell bei dieser Realitätsanpassung zu unterstützen. Ein Beispiel: Zu Neo-Nationalisten gewordene Globalisierungsverlierer können durchaus ein gewisses Recht auf gesellschaftliche Kompensation haben.

Unterstützende Zuwendung brauchen jedoch auch die scheinbaren Gegenspieler der Ultrarechten: die (meist islamischen) Einwanderer. Auch bei ihnen gilt es mitzuhelfen, sie in die seelische deutsche Gegenwart zu integrieren. Angesichts der in der Regel wachsenden Bereitschaft zumindest der zweiten oder dritten Einwanderergeneration wird das wohl einfacher zu bewerkstelligen sein als mit den oft starrsinnigen Schattenmustern von AfD und NPD.

Die beste Schattenarbeit besteht jedenfalls darin, den vergleichsweise lichtvolleren Anteil der deutschen Gegenwart aufzuzeigen und vorzuleben. Die Rede ist von den – historisch durchaus neuen – friedlichen, vielfältigen, lebendigen, freiheitlichen und toleranten Elementen der heutigen deutschen Seelenverfassung. Die normativen Definitionen dieser seelischen Qualitäten spiegeln sich auch im Grundgesetz, der politischen Verfassung des Landes wider.

Allerdings scheint es so zu sein, dass es auch für die Protagonisten dieser Werte angesichts des erwähnten, oft zynischen Zeitgeistes der Postmoderne nicht immer einfach ist, diese in vieler Beziehung positive deutsche Gegenwart als real anzuerkennen und sich ihr zu öffnen. Die Erfahrung der seelischen Realität eines sich entwickelnden, deutschen Identitätsfeldes ist ein Schritt, den auch der gesundere Teil der Gesellschaft leisten muss.

Wer den Mut hat ihn zu gehen, gleich ob von ultrarechts, vom Mainstream oder aus Syrien kommend, wird seine befreiende Wirkung spüren. Er zeigt sich nicht als Stolz, sondern als – durchaus kritisch bleibende – Dankbarkeit. Dankbarkeit, trotz aller Schatten, für das reiche seelische Erbe des uns jeweils prägenden und umgebenden Landes oder manchmal auch der uns prägenden Länder. Nur das kann uns frei machen, ohne Neid und Rivalität die jeweils einzigartigen Seelenfelder auch der anderen Länder zu entdecken und anzunehmen. Und das wiederum ist wirkliche und nachhaltige Voraussetzung für ein auch seelisch vereintes Europa und für die noch vor uns liegende transnationale, vielgestaltige Weltheimat.

Ende von Auroses Text

Website von Wolfgang Aurose: www.sunwolfcreations.com