Liebe Freunde,

eigentlich wollte ich darüber nicht schreiben, aber da es »alle Welt« beschäftigt, tue ich es nun doch. Wer sich dieser Tage Nachrichten reinzieht, dem scheint es einen »Ausbruch von Gewalt« zu geben, verursacht von IS-Sympathisanten oder -Mitläufern, genannt »Terroristen«, oder von Amokläufern, die – ähnlich dem Norweger Anders Breivik vor fünf Jahren – ihr Bedürfnis, ein bedeutsamer Mensch, ein Held zu sein, durch eine medienwirksame Gewalttat zu verwirklichen suchten. 

Weiter unten in diesem Rundbrief findet ihr ein paar Links zu Analysen, die Kontext und Tatmotive dieser sogenannten Terroristen oder Amokläufer zu verstehen helfen, besonders die zu Schulte von Drach, Katherine Vinder und (den Nahen Ostern betreffend) Robert Fisk.

Wie gefährdet sind wir?

Wir sind heute jedoch weniger denn je gefährdet, von einem Gewalttäter angegriffen und verletzt oder gar getötet zu werden, als je in der Geschichte der Menschheit. Das gilt ganz sicher für Deutschland, vermutlich auch für Europa, je nach verglichener Periode wohl auch für die ganz Welt. Menschen sind manchmal gewalttätig. Leider ist das so, und wie wohl die meisten von euch meine auch ich, dass das, wo immer möglich, verhindert werden sollte. Aber es ist nicht schlimmer denn je. Im Gegenteil, wir sind heute sicherer denn je. Aufgrund der besonderen Möglichkeiten medialer Darstellung, von Handy-Filmen, die (nahezu oder ganz) in Echtzeit im Internet zu sehen sind, von Twitter und Facebook, und auch dank der Schnelligkeit der traditionellen Medien sind wir heutzutage ganz nah dran am Geschehen. Bevorzugt: am schrecklichen Geschehen. Es ist, als würde es im Nachbarhaus passieren. 

Selektive Wahrnehmung

Die sich daraufhin unter uns Mediennutzern massenhaft ausbreitende Angst beruht auf dem, was Psychologen »selektive Wahrnehmung« nennen. Erstens wird über Schreckliches viel öfter und ausführlicher berichtet als über Erfreuliches, es liegt den Entscheidern in den Medien hierüber also mehr Material vor. Zweitens gewinnen Medien, die dieses Material unseren Ängsten gemäß aufbereiten (Sensationalismus) wirtschaftlich gegenüber denen, die das nicht tun. Drittens bleibt das Schreckliche gegenüber dem Erfreulichen in unseren Gedächtnis eher hängen, auch hier wieder wirkt die selektive Wahrnehmung. Der Film wird eben im Schnitt gemacht, dieser Spruch von Filmcuttern passt hier wieder mal. Was wir im Gedächtnis behalten und was unsere Gefühle bestimmt, ist weniger als ein Millionstel dessen, was wir über unsere Sinnesorgane von der Welt aufnehmen, und wir geben bei dieser Auswahl dem Schrecklichen Priorität. Was evolutionsbiologisch leicht zu verstehen ist: Die Priorisierung von Gefahren war jahrzehntausendelang ein Überlebensvorteil. Die heutige mediale Darstellung des Gefährlichen priorisiert es allerdings auf eine Weise, die nicht mehr unser Leben und Überleben bessert.

Was tun?

Was können wir dagegen tun? Erst einmal das: Wir sollten verstehen, wie wir funktionieren; wie unsere die Wirklichkeit verzerrende Weltwahrnehmung funktionert. Zweitens, nun die Außenwelt betreffend: Wir sollten verstehen, wie politische und religiöse Überzeugungen und die auf ihnen basierenden Machtstrukturen zustande kommen, und was demgegenüber wirkliche Religiosität, Spiritualität, politische Reife und Weisheit ist. Wenn mehr als nur ein Prozent der Menschheit das (beides) verstehen würde, behaupte ich in meinem unerschütterlichen Optimismus, würde das unsere ganze Weltkultur umkrempeln. Es wäre disruptive, das Bisherige unterbrechend (ein Lieblingsword der heutigen Innovativen), und zwar in einer guten Weise.

Die Hoffnung auf solche positive Disruption hat meinen kleinen Verlag 30 Jahre lang am Leben erhalten, leider bisher noch ohne damit eine Weltrevolution auszulösen. Aber es gibt ja jetzt dieses Blog…, das ihr weiterempfehlen dürft. Wer es (oder wenigstens diesen Rundbrief) schon abonniert hat: Schau’ bitte auch mal auf leben-mit-fluechtlingen.de. Auch dort gibt es immer mal wieder neue Einträge, auch die kann man abonnieren (per RSS-Feed). 

Tanzfest, Heartbeat, Entheo und BeFree

Hier ein paar Hinweise für diejenigen, die nicht nur lesen, sondern auch nonvirtuell leben wollen (den Pokemon Go Fans gelingt das ja immerhin schon ein bisschen). Am 5. August gibt es wieder ein Tanzfest im Connectionhaus, wo wir mit Flüchtlingen friedlich zusammenleben und uns ab und zu eine Tanzparty gönnen. Einlass 19.30 h. Musik von 20 bis 23 h. Eintrittspende 5 €, ermäßigt 2 €. Getränke gibts bei uns an der Bar. Kinder willkommen! Diesmal wird auch mein sechsjähriger Sohn Valentin dabei sein.

Vom 10. bis 14. August bin ich auf dem von Angela Raymann organisierten Heartbeat-Festival auf Schloss Buchenau am Nordrand der Rhön und gebe dort einen Humorworkshop und einen (»Höhenflüge und Landungen«) über Beziehungen und den »Nestbau im Niemandsland«. Solche Feste sind eine wunderbare Gelegenheit, Menschen in die Augen zu schauen und dort das Strahlen der Liebe zu sehen, den Himmel auf Erden! (Angela hat mir gestern diesen Link geschickt.)

Am WE 3./4. September bin ich wieder mal in Berlin, diesmal auf der von Joe Schraube veranstalteten Entheo-Konferenz, in der es um das Göttliche geht (theo), die Transzendenz, der wir uns – auch – mit Hilfe von Substanzen nähern können. Falls wir klug damit umgehen. Dort gebe ich einen Kurzvortrag über die Gestaltung von Realität in unseren Gehirn & Verstand (brain & mind) und moderiere einige der dortigen Veranstaltungen. 

Vom 28. September bis 3. Oktober bin ich auf dem Herbstfestival des BeFree Instituts auf Gut Frohberg bei Dresden. Regina Heckert hat mich eingeladen, während dieses tantraklösterlichen Retreats ein paar Stunden die wilden Männer anzuleiten und außerdem noch was Kabarettistisches zu initiieren. Gemeint ist damit die Fähigkeit, sich selbst auf die Schippe zu nehmen – physikalisch ist das unmöglich, wie ihr wisst, aber wir sind ja spirituell ????.

Humor ist erlernbar

Noch mehr zum Thema Humor gibt es am 16. Oktober in München, im Ya Wali (Sufi-)Zentrum in Haimhausen, in einem Tagesworksho von 10 bis 17 h. Da könnt ihr euch sieben Stunden lang der Fähigkeit widmen, euch selbst und die Nervensägen aus eurer Umgebung leichter zu nehmen. Der Trick dabei ist: Sei dir selbst ein Witz! Dann hast du immer was zu lachen. Bitte hierzu unbedingt deine Ernsthaftigkeit mitbringen – gerade an diesem Tag, in diesem Kurs darf keiner das Wichtigste zuhause lassen. Wem ein Tag nicht reicht (»Übernacht kehrt das Ego zurück«, wusste schon der weise Fui Peng), kann gleich den Humorworkshop im Connectionhaus vom 28. bis 30. Oktober buchen. Zu beiden Workshops findest du am Ende meines Blogeintrags über Radikalen Humor die Daten. 

Heilung und Wahrheit

Meine monatliche Kolumne bei KGS Berlin handelt diesmal von Selbstheilung. Zu denken, der Arzt oder die vom Heiler empfohlene Methode würde mich heilen, ist naiv und gibt zu viel Verantwortung ab. Ebenso unvollständig ist auch das andere Extrem: Ich schaffe das alleine! Meine Selbstheilungskräfte schaffen das, ich muss nur echt und tief daran glauben. 

Und jetzt wieder politisch. Der Text, auf den ich hier verweise ist lang und auf Englisch, aber sehr lohnend zu lesen. Es ist ein Essay über Wahrheit, von Katherine Viner, der Chefredakteurin des Guardian. Donald Trumps Erfolg mit seinen dreisten Lügen und die geschlossenen Wahrnehmungsblasen mancher Internet-Communities geben ihr Anlass zu Gedanken über die heute übliche Geringschätzung von recherchiertem Wissen. 

Die dunkle Seite im Mann

Donald Trump als dunkler Gegenspieler von Barack Obama kommt auch in meinem Text über eine tiefe Erfahrung mit meiner eigenen Fähigkeit zur Gewalt vor, den ich für die Sommerausgabe der Schweizer Zeitschrift Spuren geschrieben hatte. Ich habe ihn jetzt, leicht verändert und ergänzt, unter »Männliche Kraft« in mein Blog gestellt. Spuren enthält seit einiger Zeit in jeder Ausgabe einen Text von mir, und – versprochen! – auch Nicht-Schweizer dürfen diese sehr empfehlenswerte Zeitschrift abonnieren.

Erfolg? Denkste …

Mit meinem alten Verlegerfreund Martin Frischknecht, dem Herausgeber von Spuren, tausche ich mich übrigens alle paar Wochen in einem öffentlichen »vierhändigen« Dialog aus, den wir »die Spuren-Connection« nennen. Diesmal ist es ein Austausch über unsere Glaubenssätze über Geld und Geschäftliches,und wie diese mit unseren (verlegerischen) Erfolgen und Misserfolgen zusammenhängen.

Das Schlamassel in Nahen Osten

Sehr bewegt hat mich auch das Interview mit Robert Fisk (vom 4. 12. 15) über die Kämpfe im Nahen Osten und die Haltung des Westens hierzu (40 min, auf Englisch). Fisk ist ein exzellenter Kenner des Nahen Ostens und stellt in diesem Interview u.a. die spannende Frage nach der psychosozialen Wirkung der Tatsache, dass seit ein paar Generationen die säkularen Gesellschaften des Westens die Gesellschaften der Gottgläubigen in den islamischen Kulturen dominierten, obwohl die doch glauben, dass »Allah akbar« (also »der Große«, gemeint ist: der Stärkere) ist. Fisk wird übrigens auch von meinen syrischen Mitbewohnern als verlässliche Quelle empfohlen. Sie sind, ebenso wie Fisk, überzeugt, dass die Türkei, Katar und Saudiarabien den IS unterstützen und dass, so lange diese Unterstützung aufrecht erhalten wird – auch vom Westen – der »Kampf gegen den IS« nur eine Show ist, die für die Dummen angeführt wird.

Identitätssuche

Auf sz.de stand dieser Tage eine kluge Analyse (nur Text), von Markus Schulte von Drachwie identitätsuchende Jugendliche zu Mördern werden und sich dabei als Helden fühlen, die sich für eine gute Sache opfern. Wer sich zu diesem wichtigen Thema weiter schlau machen will, findet dort auch Links zu Douina Bouzar, Scott Atran und Ahmad Mansour. Bei Jugendlichen ist der Prozess der Identitätssuche im typischen Fall erschütternder als bei Erwachsenen, aber auch bei Erwachsenen hört er nicht auf. Spirituelle Menschen könnte man definieren als Menschen, für die dieser Prozess nie in einer Erstarrung endet. In meinem Text in der aktuellen Print-Ausgabe (Nr. 97) von Ursache & Wirkung behaupte ich, dass der Buddha, würde er heute lehren, nicht mehr das Leiden, die Ursachen des Leidens und den achtfachen Pfad zum Zentrum seiner Botschaft machen würde, sondern die Identitätssuche.

Die Identitätssuche ist eben überall Thema. Die Welt ist ein komplexes Gebilde, aber hätte ich nur auf einen Punkt zu verweisen, der Lösungen und Auswege verheißt, der zu Weisheit, Mitgefühl und Liebe führt, wäre es dieser: Identität! Verstehe, wer du bist. Verstehe die Ich-, Wir- und Ihr-Strukturen, die Identitäten von einzelnen Menschen und Gruppen von Menschen. Identitäten haben ihre Geschichte, sie sind historisch entstanden. Wer sie versteht kann sie gestalten, ähnlich der Art, wie ein Romanautor seine Figuren gestaltet. Allein? Nein, kokreativ. Wir sind ja vernetzt, eingebunden, connected. Bei dir selbst und deiner nahen Umgebung hast du – dein ebenfalls gestaltetes und gestaltbares Ich – mehr Einfluss auf die Gestaltung, je größer der gesellschftliche Rahmen, umso weniger. 

Wir, also diese Ichs, sind zwar in gewisser Hinsicht die Schöpfer unserer Wahrnehmungsfilter, aber nicht die einzigen Schöpfer »der Welt da draußen«. Zu verstehen, wie Identitäten entstehen, hilft, sie mitgestalten zu können.

Mit herzlichem Gruß

Wolf

schneider@connection.de