Montag Abend hatten wir hier in Niedertaufkirchen ein Treffen im Gasthof Söll, auf dem ein Jurist und der für uns zuständige Asylsozialberater vom Landratsamt unser Dorf über die Flüchtlingssituation informierten. Ungefähr 30 Personen kamen, darunter wir drei von der Connectionhaus-WG, Inge, Peter und ich. Auch vier der Flüchtlinge waren mit uns gekommen: die syrische Familie, die bei uns wohnt. Sie wollten sich zeigen und die Stimmung mitbekommen. Von den Flüchtlingen bei uns im Haus versteht noch keiner Deutsch.

Dorfversammlung

Auch der Bürgermeister war da, ein stämmiger Bauer, der mit dröhnend lauter Stimme die Versammlung eröffnete und dann den Abend lang hinter seinem Glas eher stoisch drein blickte, bis er mit fast ebenso lauter Stimme die Versammlung schloss. Auch ein paar von denen, die man als Flüchtlingsgegner kennt, waren da – und viele, die helfen wollen. 

Neben mir saß May, die aus Damaskus geflohene Frauenrechtsaktivistin. Sie, ihr Vater, ihr Cousin und der ihr anvertraute neunjährige Sohn ihres verletzten Bruders strahlten die Anwesenden an; auch ohne Worte konnte man verstehen, wie glücklich sie waren hier zu sein. Eine liberale Familie aus dem fanatisierten Syrien hatte hier Zuflucht gefunden, und schon nach wenigern Tagen des Wohnens in demselben Haus verstanden wir uns emotional besser mit ihnen als mit einem Großteil des oberbayerischen Dorfs, in dem ich seit 25 Jahren wohne. So viel anders ist Syrien dann doch wieder nicht, in unserem globalen Dorf, wenn man die gleichen Werte teilt: Jeder soll so leben dürfen, wie er will, wenn er damit keinem anderen schadet. 

Als ich die Ängste erwähnte, die nach der Silvesternacht in Deutschland umgehen, wies ich auf May, die junge Frau neben mir, die da mit offenen Haar selbstsicher und fröhlich in die Runde blickte. Als ich sagte, sie sei eine Frauenrechtlerin aus Damaskus, die wegen ihrer liberalen Ansichten Morddrohungen erhalten hatte und trotzdem weiterhin für ihre Ansichten und die Frauenbefreiung kämpfte, gab es spontan Applaus in der Versammlung. »Die wird den Jungs aus Afghanistan schon beibringen, wie man sich zu benehmen hat, sollten die sich mal daneben benehmen«, sagte ich später dazu in kleinerer Runde am Wirtshaustisch. 

Fakten, Fakten …

Die Veranstaltung diente vordergründig vor allem der Vermittlung von Fakten: 330 € bekommen die erwachsenen Flüchtlinge im Durchschnitt ausgezahlt. Arztbesuche sind kostenlos (per Krankenschein vom Landratsamt), Zahnarzt allerdings nur eingeschränkt: akute Schmerzbehandlung ja (darunter auch Zahnziehen), Zahnersatz nein, das kostet was. Die ersten drei Monate dürfen sie nicht arbeiten, dann dürfen sie, falls kein Deutscher die Arbeit ausführen kann und will. Auch die Arbeitsverhältnisse mit Flüchtlingen sind an die 8.50 € pro Stunden Mindestlohnregelung gebunden, weshalb kaum ein Arbeitgeber sie einstellen kann. Sprachprobleme sind das größte Hindernis bei der Integration. Der Sprachunterricht wird fast ausschließlich von ehrenamtlichen Hilfskräften getragen, die keine ausgebildeten Lehrer sind. Dafür gibt es pro ehrenamtlichen Lehrer einmalig bis zu 90 € an Lehrmitteln, aber nichts für die Unterrichtsstunde. Ein großes Problem sind auf dem Land die Fahrten zu Lebensmittelläden, Schulen und Behörden – die Flüchtlinge haben ja keine Autos. Auch Fahrräder müssen erst organisiert werden, und die Busverbindungen sind auf dem Land durchweg sehr schlecht. 

… und die Gefühle darunter

Unter dem Teppich an Fakten, der da über uns ausgebreitet wurde, wirkte, wie überall, eine emotionale Stimmung, die meist viel schwerer an- und auszusprechen ist. Sind die Flüchtlinge willkommen? Sind sie eine Bereicherung für unsere Kultur oder eine Bedrohung? Da es den meisten Menschen hierzulande und anderswo schwer fällt, über Gefühle zu sprechen, werden Auseinandersetzungen eher über die Faktenebene ausgetragen, hier z.B. über die kolportierte Vermutung, die Flüchtlinge würden mehr Geld bekommen als ein Hartz-IV-Empfänger oder einen Zahnersatz bezahlt bekommen, den sich manch Einheimischer nicht leisten kann. 

Die Frau eines Gemeinderatsmitglieds, der hier im Dorf als Flüchtlingsgegner bekannt ist, brachte in die Diskussion ein, dass überall das Pfefferspray ausverkauft sei. Ob das nicht zu denken gäbe. Von dort bis zum Gespräch über die Angst und zu der Frage, ob die Angst gerechtfertigt ist, das heißt einer tatsächlichen Bedrohung entspricht, ist es nicht weit, aber diesen Weg muss man erst gehen, um dann »beim Thema« zu sein.

Körpersprache

Ich meldete mich zu Wort und erzählte, wie wir bei uns im Haus mit Konflikten umgehen. Bisher geht alles friedlich zu bei uns, aber wir lernen auch Grenzen zu setzen, wenn ein Bewohner etwa ohne zu fragen unsere Privaträume betritt. Das lag aber auch an uns selbst: Dort hatte noch ein Schild »Privat« gefehlt, und die Tür war nicht verschlossen.

Auch macht die Mülltrennung Probleme, für die wir Deutschen ja berühmt sind. Für die Flüchtlinge ist die zunächst kaum verständlich, und der große Erklärungsbedarf ist ohne Übersetzer kaum zu bewältigen. Wiederholungen helfen, auch Körpersprache hilft. Meine Lust aum Pantomimischen wird geweckt und führt zu großem Gelächter und Verständnis. Im Körpersprachlichen sind wir Menschen uns doch so verblüffelnd ähnlich! Das Lächeln eines afghanischen Gesichts zeigt pure, menschliche Freude und steht an Schönheit dem Lächeln eines Menschen, der »auf Deutsch lächelt« in nichts nach. 

Multikulti im Zug

Ein paar Tage nach dieser Dorfversammlung bin ich mit dem Zug unterwegs, von Neumarkt St. Veit aus über Landshut und Nürnberg nach Berlin. Der Zug nach Landshut ist voller Flüchtlinge, die meisten wirken fröhlich. Im  Sprachengemisch, das da zu mir rüberdringt, sind auch arabische Laute. Ich freue mich über das bunte Multikulti. Zufällig finden ein paar von denen, die schon im Zug nach Landshut in meiner Nähe waren, in dem Zug, der von dort nach Nürnberg fährt, ins selbe Abteil. Ich ziehe meinen Laptop raus und arbeite ein bisschen. Nach einer Weile zieht mich das fröhliche Sprechen von gegenüber so an, dass ich auf Englisch frage, woher sie sind. Einer von den vieren kann recht gut Englisch. Er ist zwanzig Jahre alt, heißt Ali Kurdi und … ich kann es kaum glauben: Er kennt May und Maxem, die bei uns wohnen, und ist sogar mit ihnen befreundet. 

Worte

Unsere Freude breitet sich unter den Mitreisenden aus. Viele hören uns zu, lachen und übersetzen einander, was sie verstanden haben. Ali bringt mir arabische Worte bei: sadiki (in der Anrede: du, mein Freund), habibi (du, mein Lieber), die Zahlen von eins bis drei und noch einiges andere. Was ich arbeite, wollen sie wissen. Ich bin Schriftsteller (writer) sage ich. Was heißt das auf Arabisch? Katib heißt das. Oh …. das ist ja fast wie kitab, Buch, fällt mir wieder ein. Nur die Vokale sind vertauscht. Ein Katib ist also einer, der ein Kitab geschrieben hat, wie einfach! Das Wort Kitab kenne ich aus dem Malaiischen, auch dort heißt es Buch, weil der Koran für die Malaien damals, als der Islam die südostasiatischen Inseln erreichte, wohl das erste Buch war, das sie erlebten. Das ist eine ähnliche Geschichte wie die für das Wort Bibel, das ja auf griechisch (biblos) einfach Buch heißt. Wortgeschichte – Kulturgeschichte. Ich erinnere mich wieder, wie sehr Christentum und Islam und die von ihnen eroberten Völker geprägt wurden durch diese als heilig empfundenen Bücher.

Sexuelle Repression

Die Silversternacht von Köln (ähnlich, aber weniger schlimm in einigen anderen deutschen Städten) hat inzwischen zu mehr als 800 Anzeigen wegen Raub und sexueller Belästigung geführt; verdächtigt werden vor allem maghrebinische Einwanderer aus Nordafrika. Angela Merkel ist mit ihrer Willkommenskultur nun schwerer in Bedrängnis als je. Ausländische Männer aus den islamischen Ländern werden pauschal als triebgesteuert und frauenverachtend denunziert, vor allem von Menschen, denen ihre eigene Sexualität Angst macht. Rechtspopulisten, die »schon immer wussten« dass Ausländer gefährlich sind, bekommen Zulauf. 

Es braucht nun Genauigkeit und Feingefühl, sich hierzu politisch zu äußern. Einerseits müssen wir unsere liberale, immerhin an der Oberfläche nicht sexrepressive Kultur schützen. Andererseits sollten wir nicht vergessen, dass auch bei uns sexuelle Bedürfnisse im Schattenbereich agieren und zu Projektionen und Verdächtigungen führen. Sex ist eben hier wie dort ein Politikum. Und es lässt sich wohl sehr pauschal sagen, dass sexuelle Gewalt vor allem dort grassiert, wo das Thema nur schwer angesprochen werden kann, weil es tabuisiert ist.