Mike (so nennt er sich) aus Kabul ist bisher der einzige im Haus, der täglich betet. Ich sah ihn zu Sonnenuntergang in seinem Zimmer, wie er sich dafür nordostwärst richtete. Nordostwärst? Mekka liegt von uns aus südostwärts. Seitdem ich Mike und den anderen das sagte, gelte ich in der oberen WG als Religionsgelehrter. »Nach Nordosten, spinnst du? Du wirst doch nicht Putin anbeten wollten, oder? Dort liegt Moskau!« Sie lachten. Einer zeigte mir auf seiner Qibla-App – das ist eine Smartphone-App, die wie ein Kompass fürs tägliche Gebet die Richtung nach Mekka angibt –, dass dort Richtung Nordost angegeben war. Ich schaute näher hin: Dort war Nigeria als Standort eingegeben. Sie korrigierten das und waren dann froh, dass die App und »ihr Religionsgelehrter« nun dieselbe Richtung fürs Gebet angaben. 

Männertanz

Drei Tage ist es her, da hörte ich abends laute Musik von oben, vermischt mit fröhlichen Stimmen, Stampfen und Johlen. Ich ging hoch in unsere Afghanen-WG und fand dort in der Küche sieben unserer ‚Jungs‘ in der Küche beim Tanzen zu afghanisch-pakistanischer Musik. Die ausgelassene Stimmung verstärkte sich noch, als ich, der 40 Jahre Ältere, dazu kam und mit ihnen tanzte. Ich mag diese orientalisch-melancholische Musik sowieso, wenn sie nicht gerade aus einem schlechten Autolautsprecher plärrt, und das hier war sogar noch geiler als ich es kannte. Und dann mit diesen Männern, die keine Scheu hatten, miteinander und mit mir zu tanzen! Außer einem von den sieben, der sich verschämt abzuwenden schien. 

In unserer Kultur tanzen Männer in der Öffentlichkeit nicht miteinander. Frauen schon eher, im typischen Fall aber nur Hetero-Paare. Diese Männer aber aus Ländern, in denen Homosexualität zum Teil mit dem Tod bestraft wird (in weiten Teilen Afghanistans und Pakistans ist das der Fall, im Iran und in Saudi-Arabien sogar per Gesetz), hier tanzten sie miteinander, einander zugewandt. Stampfend und mit Hüftschwung, sich dabei fröhlich in die Augen schauend. Ich habe sowas in Deutschland allenfalls in tantrischen Männergruppen erlebt. Hier genügten den Jungs ein paar Lieder, die einer auf dem Smartphone hatte, dazu zwei kleine, geliehene Boxen, und als ich dazu kam, explodierte die Stimmung. Vom Alter her könnte ich ihr Papa oder Opa sein. Hier bin ich ihr Vermieter und zugleich eine Art geistige Autorität, weil ich ein paar Brocken ihrer Sprache kann und einiges von ihrer Religion verstehe. Und dann solch ein Tanz – ich konnte es kaum fassen, wie sehr sie das genossen. 

Diese Männer sind außerdem viel weniger scheu als wir Deutsche, einander auch körperlich zu berühren. Die Worte für »Freund« und »Bruder« fallen nach der ersten Begegnung sehr schnell. Man berührt sich dann an den Händen und Schultern, manchmal auch mit einer leichten Umarmung. Sie kommen zwar aus einer »homophoben« (d.h. schwule Sexualität verachtenden), aber nicht aus einer körperfeindlichen Kultur. Außer, was das Essen anbelangt, da kaufen sie einfach die billigste Fertignahrung aus unseren Discountern ein, ohne zu wissen, was das mit ihren Körpern macht. Selbst wenn sie mehr Geld zur Verfügung hätten, würde kaum einer von von ihnen besser essen, scheint mir. 

Gestern habe ich auf meiner Facebookseite einen Artikel aus der SZ gepostet, der sich mit den Gründen beschäftigt, warum Afghanen zu uns kommen. Dort wird von einem Sänger erzählt, der sich in der dortigen TV-Show »Afghan Star« so sexy präsentiert hatte, wie man das auf einer solchen Musik-Show eben tut. Sein Vater wurde daraufhin ermahnt, er solle seinen Sohn davon abhalten. Das tat er nicht, woraufhin eine Talibangruppe ihn in einen Hinterhalt lockte und tötete. Dann erhielt auch der Sohn Todesdrohungen. Tanz und Musik gilt einigen der Taliban als »unislamisch«, und die dem folgenden Morddrohungen werden oft auch vollstreckt. Umso beeindruckender, wie diese Männer hier im Haus beim Tanz aufleben, und sich das dann mit mir, dem Älteren, der für sie auch ein Religionsgelehrter ist, noch verstärkt. 

Sufi-Meditation

Von einigen der Flüchtlinge hier im Haus weiß ich aus intimen persönlichen Gesprächen wie groß die Angst vor religiösen Fanatikern ist. Mehr dazu in den nächsten Tagen hier im Blog. Diese Gespräche haben auch dazu geführt, dass ich meinen Sufi-Freund Ingo Taleb Rashid zu uns eingeladen haben. Er wird am 2. März zu uns ins Haus kommen, Beginn um 19 h, und etwas zur »transreligiösen« Praxis sagen und dann mit uns eine Dhikr Meditation machen. Rashid steht in einer religiösen Tradition, die bis auf Mohammed zurückgeht, ist dabei aber das Gegenteil von einem religiösen Fanatiker, nämlich ein famoser Witzbold. Ich stand mit ihm schon mehrfach im Kabarett auf der Bühne, im Chiemgau und auch hier im Haus. Jeden Winter veranstaltet er im Kloster Frauenwörth auf der Fraueninsel im Chiemsee seine El Haddawi Winterschule und ist dabei nicht nur geduldet, sondern unterstützt von der dortigen strengen Äbtissin. Für Sufi-Workshops reist er bis nach Kasachstan, Japan und Brasilien, in seiner oberbayerischen Heimat ist er deshalb gar nicht so oft zu anzutreffen. Für uns im Connectionhaus, Ausländer wie Inländer, schenkt er uns diesen Abend (d.h. Eintritt frei). Ich will dazu auch die örtlichen Pfarrer einladen, die sich hier in vorbildlich karitativer Weise für die Flüchtinge engagieren. Aber es gibt auch jenseits des Karitativen noch eine Ebene, auf der wir uns begegnen können, in einer Art »großer Ökumene«, in der alle beheimatet sind: Christen, Muslime, Atheisten, alle.