Vorgestern erschien im Wissenschaftsnewsletter von spektrum.de (ich erhalte ihn täglich) ein Text von Dounia Bouzar über die Rekrutierungsmethoden des IS. Obwohl er ziemlich lang ist, habe ich ihn ganz durchgeslesen und war dabei hin – und hergerissen. Hingerissen, weil sie sich so kompetent und hoch engagiert dafür einsetzt, dass der IS (hier auch Daesh genannt) keine weiteren französischen Jugendlichen auf seine Seite zieht. Aber auch abgestoßen, weil mich Anspruch und Methode an das erinnert, was ein paar Jahrzehnte lang die Sektenexperten von Staat und Kirche in Deutschland und Frankreich gemacht haben, um Menschen, vor allem Jugendliche »aus den Fängen« von unter anderem auch sehr liberalen, freigeistigen Gruppen »zu befreien«. Von Gruppen, die freier waren als die »Fänge« der Familien, aus denen die Menschen dorthin entkommen waren. 

Dounia Bouzar

Die Vita der Autorin habe ich daraufhin in der französischen Wikipedia nachgeschlagen (sonst findet man noch kaum was über sie) und finde sie sehr sympathisch. Sie ist Tochter eines marokkanisch-algerischen Vaters und einer Mutter korsischer Abstammung. Ihre beiden eigenen Töchter arbeiten in ihrem Ent-Rekrutierungsprogramm mit, auch das finde ich sympathisch, denn oft ist es ja so, dass bei einem heuchlerischem Gutmenschentum der Eltern die Kinder intuitiv ganz anders ausschlagen, dass das Generationenpendel bei ihnen in die andere Richtung ausschlägt und manchmal erst bei deren Kindern wieder zurück schwingt. Douinas Mann sei gegen sie und ihre Töchter gewalttätig gewesen, heißt es dort außerdem, und auf Youtube findet man Filme, in denen Dounia »den echten Islam« gegen die Exzesse der Salafisten und von IS (arabisch Daesh) verteidigt. 

Die Autorin macht sich in diesem sehr fachkompetenten Artikal dafür stark, dass die »Ent-Rekrutierer« auf der Ebene der Emotionen handeln müssten, sonst könnten sie »die Jugend nicht zurückgewinnen«. Über die Ratio allein geht es nicht, da hat sie recht. Ohne Ratio aber vielleicht auch nicht, meine ich, und der von ihr verwendete Begriff der »Rekrutierung« betont die Opferseite der Jugendlichen. Sie sind aber auch Täter, und dann müsste es heißen »sie konvertieren« (zu dieser Variante des Islam). 

Informationsquellen der Konvertiten

Die werdenen IS-Fans informieren sich übrigens während dieses Konvertierungsprozesses auf Webseiten, schreibt Dounia, die vor der Weltherrschaft der Zionisten warnen, die »den Planeten kaufen« wollen und anderer Verschwörer, wie etwa der Illuminaten und der Freimaurer. Sogar die Impfgegner werden hier genannnt. Hierbei gruselt mich, denn ich denke dabei an die vielen auch in meinen Freundeskreisen, die sich für hochspirituell und humanistisch motiviert halten und das teilweise auch sind, die sich ebenso dort informieren und diese Quellen für »die Wahrheit« halten. 

Dann wird auch noch der Film »Matrix« genannt, der in meinen Freundeskreisen sehr geschätzt wird. Dort wird dem Helden angeboten, durch eine Pille »aufzuwachen« aus dem System, das ihn gefangen hält. Kann auch dieser Film eine Etappe auf dem Weg zur Rekrutierung durch IS sein? Gruselig.

Entmenschlichung

Das Ent-Rekrutierungsprogramm weist auf die Zerstörung des Individuums hin, heißt es Bei Dounia. Mag sein, dass das so ist. Genau das macht jedoch auch jede militärische Ausbildung. Wenn Frankreich jetzt zusammen mit mehr als 20 anderen Nationen Krieg führt gegen den IS, braucht es dazu Soldaten. Auch in deren Ausbildung ist die Entindividualisierung ein wichtiger Aspekt, der sie befähigt, auf Befehl töten zu können. Im letzten Schritt weise ihr Ent-Rekrutierungsprogramm auf die Entmenschlichung der Feinde im Weltbild des IS hin, sagt sie – ja, so ist es. Eine solche Entmenschlichung des Feindes brauchen jedoch auch diejenigen, die jetzt Syrien bombardieren, so wie sie auch der Bomber von Hiroshima brauchte und die Soldaten, die heute von der US-Basis Ramstein in Deutschland aus Drohnen steuern mit dem Auftag, damit nicht nur »Objekte« abzuknallen, sondern Menschen. 

Heim ins Reich der Familie

»Der Weg des Ausstiegs (aus IS) beginnt mit dem wesentlichen Schritt, die Bindung zwischen dem Opfer und seiner Familie wiederherzustellen.« Zurück in die Familie, das ist besser als Daesch (IS), aber das ist auch der Ort, von dem der Jugendliche weg wollte. Langfristig keine gute Lösung, finde ich.

Der IS hat die jungen Leute manipuliert. Nun sollen sie durch eine noch bessere Manipulation zurückgeholt werden. Möge Douina mit dieser Rückholmanipulation erfolgreich sein! Anscheinend ist sie das in vielen Fällen. Aber dieser Erfolg scheint mir auf wackeligen Beinen zu stehen, weil die Jugendlichen dabei letztlich von einer schrecklichen Verblendung in eine weniger schreckliche Verblendung zurückgeführt werden. Ein Aufwachen und Austreten aus der Entmündigung ist das noch nicht. 

Denkschablonen

»Es ist möglich, aus den einheitlichen Denkschablonen herauszukommen. Die meisten Familien, denen wir geholfen haben, haben es geschafft,« schreibt Douina in ihrem Artikel für spektrum.de. Dem ersten Satz stimme ich zu: Ja, es ist möglich! Den zweiten bezweifle ich, weil aus dem Text hervorgeht, dass die Ent-Rekrutierung eine Rückkehr in das alte Weltbild ist. Dieses ist in ähnlicher Weise von Denkschablonen bestimmt wie das neue, auch wenn die Denkschablonen des alten Weltbildes weniger brutal sind.

»Auch Familien und Lehrer müssen das Problem anpacken und sich ernsthaft mit der Erziehung der Jugendlichen in der virtuellen Welt auseinandersetzen.« Ja, das müssen sie. Aber sie sollten sich auch mit ihren eigenen Denkschablonen auseinandersetzen, dann kommt es gar nicht erst zu sowas wie all diesen Nahost-Konflikten, die dort seit dem Endes des ottomanischen Reiches vor sich hinschwelen und immer wieder in heißen Kriegen ausbrechen, denn diese Konflikte haben sehr viel mit den Denkschablonen und Absichten des sogenannten liberalen Westens zu tun . 

Dieses angeblich so liberale, gerechte und humane Denken des Westens ist nämlich sehr wählerisch z.B. in dem, wie es beispielsweise für Israels aggressive, rassistische Politik gegenüber den Palästinenser Partei ergreift und für Saudi-Arabien gegenüber Syrien. Obwohl Syrien seit langem sehr viel frauenfreundlicher und demokratischer ist bzw. war als Saudi-Arabien. Heute ist Syrien nur noch ein Scherbenhaufen, mit hundertausenden von Toten und mehr als vier Millionen Geflohenen. Zu Beginn des syrischen Bürgerkrieges war das Assad-Regime jedoch in Sachen westlicher Werte viel liberaler und sogar demokratischer als etwa das von den USA so sehr unterstützte Saudi-Arabien. 

Missionare der westlichen Werte

Damit das westliche Wertesystem sich in den islamischen Ländern durchsetzen kann, müsste es in der Außenpolitik nicht nur heuchlerisch vorgeschoben werden, sondern tatsächlich Entscheidungsgrundlage sein. Und bevor man mit diesem Wertesystem überhaupt missionieren geht, braucht es eine gründliche Überarbeitung, insbesondere auch im Hinblick auf Religion und Ethik. 

Klar ist die normale französische Erziehung selbst in den Schulen der Banlieue noch besser als die Bildungsinstitutionen des IS. Und der normale Zusammenhalt in einer durchschnittlichen französischen Familie ist besser als das, was der IS an Gemeinschaft bietet. Insofern darf man Dounias Engagement bejubeln und unterstützen – die französische Regierung tut das inzwischen. Aber es gibt auch bei uns viel zu tun an gesellschaftlicher Reform, ehe wir versuchen sollten, unser System mit Bomben in anders akkulturierten Regionen der Welt durchzusetzen.