Wenn in Indien und großen Teilen Asiens Menschen einander begegnen und sich auf traditionelle Weise begrüßen, falten sie die flach aufeinander gelegten Hände, Finger nach oben, zu einem Gruß, zusammen mit einer leichten Verbeugung. In Indien sagen sie dabei »Namasté«. Seit ein paar Jahrzehnten findet man diesen Gruß auch in westlichen spirituellen Kreisen als Einwanderer aus dem Osten. Ebenso wie der bayerisch-österreichische Gruß »Servus« aus dem damals lateinisch sprechenden Süden hat also auch dieser einen Migrationshintergrund.

Übersetzt heißt Namasté in etwa: »Ich verehre dich«. Das Wort kommt aus dem Sanskrit, von namas, Verehrung und te, dich. Für gottgläubige Hindus bedeutet es: »Ich grüße das Göttliche in dir«. Die zugehörige Geste der Hände ist aus vier- bis fünftausend Jahre alten Terrakotta-Statuen der Induszivilisation bekannt, sie ist also vorarisch und damit nicht nur vorbuddhistisch, sondern auch vorhinduistisch. Sie hat sich im Lauf der Jahrtausende über fast ganz Asien ausgebreitet und wird heute Kulturen und Kontinente übergreifend verwendet, sowohl als Geste der Begrüßung und des Abschieds wie auch als Geste der Verehrung.

Der tantrische Gruß

Tantriker verwenden diese Geste auf besondere Weise. Manchmal so wie Inder, als Namasté, in der Bedeutung von »Ich grüße das Göttliche in dir«. Oft aber auch spezifischer. Zu Frauen sagen sie dann »Ich grüße die Shakti in dir« und zu Männern »Ich grüße den Shiva in dir«, denn für Tantriker hat die Trennung der Menschen (und der meisten Tier- und Pflanzenarten) in zwei einander gegenüberstehende geschlechtliche Gegenpole eine besondere Bedeutung. 

Alle spirituellen Wege erstreben die Einheit. Im Hinduismus wird sie auch Moksha genannt – übersetzt: Freiheit –, und ist dort das Ziel des religiösen Strebens. Im Buddhismus ist das Ziel Nirvana und wird meist übersetzt als Erleuchtung, auch dort bezeichnet es das Einswerden oder Verschmelzen mit dem universellen Ganzen. Im Tantra ist der Begriff für die mystische Vereinigung Maithuna. Sie wird rituell geistig sowie auch körperlich vollzogen als sexuelle Vereinigung, ähnlich dem Hierosgamos im sumerischen Mesopotamien (dort zwischen Inanna und Dumuzi) und in anderen prähistorischen und auch in einigen historischen Kulturen. 

Im Tantra gehört aber auch die Entzweiung in zwei Gegenpole, den weiblichen und den männlichen, zum Heiligen, nicht nur die Einheit, denn das Leben schwingt immer zwischen Vielfalt und Einheit, Polarität und Einheit, Yin und Yang, dem weiblichen und dem männlichen Prinzip.

Wenn wir einander im Tantra also als Gott und Göttin, Shiva und Shakti begrüßen, entsprechend den höchsten Gottheiten des hinduistischen Tantra, heißt das nicht, wir seien nun größenwahnsinnig geworden oder gottgläubig in irgend einem naiven Sinn. Wir hören dabei nicht auf, unser Gegenüber in seiner einzigartigen weltlichen Persönlichkeit wahrzunehmen, quasi versetzt in ein Disneyland von Göttern auf Erden, sondern wir verehren dabei den essentiellen Kern des Menschseins im anderen (beim Namasté), beziehungsweise den des Weiblichen und Männlichen im anderen (beim tantrischen Gruß). Wir anerkennen und wertschätzen diesen Kern, wir verehren ihn sogar. Sie ist immer noch die Petra und er der Wilfried, das leugnet oder missachtet dieser tantrische Gruß nicht, aber er sieht im Anderen nun nicht mehr nur die Person, das Persönliche, Individuelle, sondern auch den Archetyp, für den sie steht: das Weibliche, Männliche, Menschliche, Lebendige. Religiös ausgedrückt: das Göttliche. 

Berührung ‚ohne Ansehen der Person‘

Im möchte nun ein Ritual beschreiben, das es in einigen klassischen Formen des Tantra gibt, aber auch in modernen, westlichen, globalen Formen: die Begegnung mit dem anderen ohne Kenntnis der Person. Die Person ist dabei ‚verblindet‘, das heißt, man sieht sie nicht und erkennt sie auch nicht über das Gehör. Es ist eine Verblindung in dem Sinne, wie sie auch in den wissenschaftlichen Doppelblind-Studien so genannt wird, wo man, um Vorurteile weitestmöglich auszuschließen, eine These testet, ohne dass Tester und Getestete wissen, welche These dabei geprüft werden soll.

In tantrischen Gruppen gibt es Übungen, bei denen die Teilnehmer mit Augenbinde einander begegnen und dabei angehalten sind, keine Laute von sich zu geben. Das Ziel ist dabei, dass Gedanken wie »dem will ich nahe kommen« und »dem nicht« ausbleiben und Raum geben für ein Spüren ohne Bewertungen. Man bemerkt dabei zum Beispiel, dass sich menschliche Nähe einfach gut anfühlt – ob der Körper ein männlicher oder weiblicher ist und dementsprechend zu meiner sexuellen Präferenz (hetero oder homo) passt, merke ich ja noch nicht gleich. Erst wenn meine Hand etwa Barthaare oder Rundungen berührt, kann ich die Person als männlich oder weiblich erkennen und einordnen in »willkommen« und »nicht willkommen«. Die Einordnung in »das ist die Petra« oder »das ist der Wilfried« braucht noch weitere Infos. Wie immer bei Übungen im tantrischen Kontext ist jeder angehalten, sehr achtsam zu berühren und Signale der Ablehnung feinfühlig zu berücksichtigen. Niemand soll dabei durch sozialen Druck genötigt werden, etwas zu tun, was er/sie nicht wirklich will.

Das Wanderritual

Bei den BeFree-Events der Tantra-Schule von Regina Heckert hat sich eine besondere Form einer solchen transpersonalen Begegnung herausgebildet: das Wanderritual. »Es ist aus rein praktischen Gründen entstanden«, sagt Regina dazu in ihrer entwaffnend diesseitigen Art. Die Partnerwahl war in den früheren Seminaren von BeFree oft schwierig, sagt sie und für die Teilnehmer eine Überforderung. Viele befürchteten, dabei nicht »den Richtigen« abzukriegen, und wer dabei nicht seinen Wunschpartner gefunden hatte, mussten mit diesem den ganzen Abend verbringen. Daraufhin erfand sie dieses Wanderritual, wo man an einem Abend in aufeinander aufbauenden Übungen drei bis fünf verschiedene Partner bekommt, die per Zufallsprinzip ausgewählt wurden.

Bei diesen Übungen sitzen entweder die Frauen oder die Männer auf je einer Matratze im großen Ritualraum und warten darauf, dass ihnen eine ihnen unbekannte Person des anderen Geschlechts zugeführt wird. Wenn die Frauen die Wartenden sind, werden die Männer gut vorbereitet auf das Event zeremoniell und schweigend hereingeführt in »den Tempel« – den großen Ritualraum des jeweiligen Seminarhotels (bei BeFree ist es meistens das Gut Frohberg in Sachsen). Der Raum wurde zuvor für die Sinne schön hergerichtet, mit bunten Tüchern und gedämpftem Licht, manchmal mit Düften. Es spielt Musik, die ebenso in den inneren heiligen Raum führt wie das Sichtbare und die Düfte, so dass jeder sich angemessen in diesem sakralen Raum bewegt. 

Die Männer folgen dabei den Pfeilen auf dem Fußboden, die ihnen als Klebstreifen zwischen den Matratzen der Weg weisen, bis sie auf Anweisung zum Stehen kommen, jeder Mann vor einer Frau. Er sieht sie und kennt sie vielleicht. Wenn seine Augenbinde trägt, sieht sie ihn nicht und weiß nicht, welcher Mann vor ihr steht. Sie weiß dann nur, dass er ein Mann ist und ist angehalten, in ihm Shiva zu begegnen. 

Alle einzelnen Bewegungen werden in diesem Ritual sehr behutsam und langsam ausgeführt, und immer mit der Möglichkeit »stop« zu sagen, wenn einem Teilnehmer die Übung zu weit geht. Das Ritual darf eine Herausforderung sein, die eigene Komfortzone mal zu verlassen, es sollte aber nie den einzelnen überfordern. 

Als ich selbst so mit Augenbinde auf der Matratze saß und nicht wusste, welche Frau mir da zugeführt wurde, genoss ich diese Freiheit von einem auf die Person bezogenen Fühlen, Denken und Verhalten. Es kamen zwar Gedanken, dass es die sein könnte, der ich beim Mittagessen gegenüber gesessen war, oder die, mit der ich schon am ersten Abend beim Tanzen dachte, »oh, vielleicht wäre die was für mich, hhhhmmm«, aber ich konnte es wirklich nicht erkennen. Sie sagte nichts, sie räusperte sich nicht einmal, sie begann dann nur, mich zu berühren. Ich nahm die Größe ihrer Hände wahr, was den Personenkreis einschränkte, wer es sein könnte, aber dieses Ratespiel meines detektivischen Verstandes war mir dann doch zu blöd, ich gab auf und gab mich dem Genuss hin. 

Was durch uns hindurch tönt

Mir hat diese Übung geholfen noch besser zu verstehen, was damit gemeint ist, im Tantra dem Transpersonalen zu begegnen; dem, was hinter der Person steht. Mit dem Wort Person war einst die Maske des Schauspielers gemeint. Es kommt es aus dem Griechischen (von prosopon) oder Etruskischen (von phersu) und ist über das Lateinische zu uns gewandert. Es bezeichnet das, was durch uns durch tönt (per-sona) im Sinne von: Wir sind ein Sprachrohr oder Lautsprecher, ein Kanal, durch den etwas strömt, das vor uns schon da war, nach uns sein wird und ohne uns besteht. Wir können es das Natürliche, Archaische oder Göttliche nennen, das Numinose oder Universelle oder einfach »es« sagen statt »ich«. Egal wie wir es nennen, es wirken Kräfte durch uns hindurch, die wir nicht erfunden haben, die wir in einem engeren, individuellen Sinne auch nicht sind. Wir repräsentieren diese Kräfte und drücken sie auf individuell sehr verschiedene Weise aus, aber wir sind sie nicht in der Art, wie wir das Individuum sind, das unser persönlicher Name bezeichnet. Wir sind diese Kräfte in einem transpersonalen Sinn, so wie wir eben nicht nur die Petra und der Wilfried sind, die Ingrid und der Markus, die Leila und der Ahmed, sondern wir sind sie als Repräsentanten von Shakti und Shiva, dem archaisch Weiblichen und archaisch Männlichen, Yin und Yang oder einfach dem Menschlichen, Natürlichen, Lebendigen. Wir sind nicht nur die Person, sondern auch das, was durch uns hindurch tönt und fließt, das Transpersonale.

Tantra in der Paarbeziehung

Das Wanderritual der Festivals, Seminare und Retreats des BeFree-Tantra wurde nicht dazu erschaffen, Paarbeziehungen aufzulösen, weil ja etwa doch jeder Mann in einer Frau ’nur‘ der Shakti begegnet und sie in ihm ’nur‘ Shiva. Ganz im Gegenteil soll und kann dieses Ritual Paarbeziehungen vertiefen, weil es im anderen nicht nur die Person sieht. Es eröffnet die religiöse Dimension in einer sonst eher flach oder profan gelebten Beziehung manchmal erst, es stärkt, fördert und erweitert sie. Wir können die Begegnung mit anderen als Erweiterung unserer Fähigkeit verstehen, im anderen mehr zu erkennen als nur das Gewohnte, das manchmal in Routinen erstarrt, so dass dann der Eros ausbleibt, die Neugier, die Freude, der Zauber des Anfangs. Wir können in unserer Paarbeziehung ganz entschieden sein, zueinander zu gehören, während wir uns erweitern und erkennen manchmal erst mit der Erweiterung der Perspektive, »dass »du auch das bist das hätte ich von dir ja nicht gedacht!« Wir können unsere Grenzen erweitern, während wir einander treu bleiben. Und natürlich entscheidet jedes Paar immer, wie es seine Grenzen erweitern will. 

Jeder hat einen Marktwert 

Unsere heutigen Ehen und Lebensabschnittspartnerschaften ebenso wie die flüchtigeren unserer Beziehungen sind mehr denn je »dem Markt« ausgesetzt. Die Globalisierung und die modernen Technologien haben dazu geführt, dass wir heute mehr Optionen haben als je zuvor in der Geschichte. Das betrifft unsere Kultur: Musik, Filme, Sprachen, Bücher, für uns Europäer auch unseren Standort und unser Essen – und sogar auch die Partnerwahl. Sogar das Allerheiligste, die Wahl unseres Lebens- und Liebespartners, ist heutzutage ziemlich frei wählbar und damit Marktgesetzen unterworfen. 

Den steifen Wind des freien Marktes können wir diesbezüglich lindern, indem wir uns abschotten, aber ganz draußen halten können wir die Tatsache nicht, dass es auch anders ginge: Ich könnte auch mit jemand anderem, und das gilt auch für meinen Partner. Wie viele Optionen wir diesbezüglich haben, könnten wir auch ganz nüchtern unseren »Marktwert« auf dem Beziehungsmarkt nennen. Wie wir damit umgehen, ist ein wesentliches Kriterium unserer Beziehung. Schotten wir uns ab durch feste Versprechen, was geht und was nicht geht und im Falle der Zuwiderhandlung bestraft wird, oder öffnen wir uns auch anderen Möglichkeiten? Wollen wir erforschen, ob das Sprechen, Tanzen, Küssen oder gar, Gott bewahre, der Sex mit jemand anders besser ist? Allein der Gedanke, dass es so sein könnte, übt einen gewissen Druck auf die heutigen Partnerschaften aus. Und das gilt für alle, nicht nur für die Mutigen, die bereit sind, sich auf tantrische Erfahrungen einzulassen. Wir können uns heutzutage nicht mehr darauf verlassen, dass Gewohnheit und Bequemlichkeit schon ihre Pflicht tun werden, um unsere Beziehung zu schützen. Wer sich dieser Herausforderung an die Paarbeziehung stellen will, dem verlangt Tantra vielleicht zunächst etwas ab, das gefährlich erscheint und die Paarbeziehung erschüttert. Wer sich der Herausforderung an das »Erkenne dich selbst« dabei stellt, dem bietet es das Gegenteil: eine Vertiefung der Beziehung, mehr Sicherheit, dass sie bleibt, mehr Wahrhaftigkeit und Treue – zu sich selbst und dem Partner. Treue kann auch als das Verweilen in einer Tiefe verstehen, in der »uns beide« nichts mehr trennt. Dort, in dieser Tiefe, haben wir keine Angst mehr, unseren Partner zu verlieren. Oft ist ja gerade diese Angst der Auslöser für eine Distanzierung, die dann irgendwann zur Trennung führen kann, zum Verlust des Geliebten. 

Wählen und erwählt werden

In den meisten Tantra-Workshops gibt es ebenso wie in anderen Selbsterfahrungsgruppen Übungen, bei denen wir aufgefordert werden, uns einen Partner zu wählen. Da können wir dann vorpreschen und bekommen mit mehr oder weniger Glück auch den oder die Erwählte, oder wir warten und hoffen, dass wir von einem Menschen erwählt werden, der uns gut tut. In beiden Fällen kann das Transpersonale durchscheinen. Das Erwähltwerden ist dafür sogar noch geeigneter, weil wir dabei nicht selbst, nicht persönlich die Wahl getroffen haben, sondern eine Kraft außerhalb von uns selbst uns den Partner zugeführt hat. So wie ja auch in den meisten traditionellen Gesellschaften der Lebenspartner nicht von Braut oder Bräutigam selbst gewählt wurden, sondern von den Familien. Die Ausbeute an Lebensglück soll dort nicht geringer sein als bei den romantisch entstandenen Liebespartnerschaften, heißt es. Wir sollten die uns zugeführten Partner deshalb nicht als zweite, dritte oder zwölfte Wahl missachten, sondern dabei die Chance wahrnehmen, uns vom Archetyp des Weiblichen oder Männlichen berühren zu lassen, vom Transpersonalen, Göttlichen.

Was ist Tantra eigentlich?

Die Frage, ob Tantra ein Weg zur Vertiefung der Paarbeziehung, zur Heilung sexueller Wunden, zur Erweiterung des Lustempfindens oder zur spirituellen Befreiung ist, stellt sich in der Praxis nicht. In der Praxis ist Tantra mal dies, mal das und insgesamt alles von dem Genannten. Die Frage stellt sich nur theoretisch, das heißt, wenn wir uns damit weltanschaulich verorten wollen oder versuchen, die Übungen anderen zu erklären, die sowas noch nie gemacht haben. In der Praxis spüren wir unsere Wünsche und Begierden, unsere Lüste und unsere Ängstlichkeit ebenso wie unsere spirituellen Sehnsüchte und Ekstasen und gehen damit mehr oder weniger profan oder spirituell um. Und all das hat immer mit dem zu tun, wer wir persönlich sind und zugleich mit dem, was durch unsere jeweilige, einzigartige Person aus dem transpersonalen Raum durch uns hindurchströmt.