Anomalisa           Kinostart: 21.1.2016

Charlie Kaufman, Oscar-prämierter Drehbuchschreiber und Regisseur (Vergiss mein nicht, Being John Malkovitch) beschert uns zusammen mit dem Co-Regisseur Duke Johnson ein neues Meisterwerk, dessen wesentliches Stilmittel die Verfremdung ist: eine sehr aufwendige Verfremdung, denn es handelt sich um einen Animationsfilm. Puppen, mit 3D-Druckern geschaffen, agieren im Stop-Motion-Verfahren. Die Hauptfiguren haben zwar eine ausgeprägte und echt wirkende Mimik und Gestik, doch wie bei allen Anderen erscheinen ihre Köpfe und Gesichter aus Teilen zusammengesetzt – eine doppelte Verfremdung. Es gibt Risse und Brüche, der Held kann buchstäblich sein Gesicht verlieren.

Die Handlung ist einfach, und ihre Banalität wird im Detail vorgeführt. Michael Stone, erfolgreicher Autor von Ratgeberbüchern (im Original gesprochen von dem Briten David Thewlis) fliegt von Los Angeles nach Cincinnati, um am nächsten Tag einen Vortrag für Kundendienst-Mitarbeiter zu halten. Er fährt im Taxi zu einem typischen Business-Hotel, nimmt ein Zimmer für eine Nacht, ruft pflichtschuldig seine Frau zu Hause an, dann Bella, die in Cincinnati wohnt und die er vor vielen Jahren verlassen hat. Das Treffen in der Hotelbar endet unerfreulich, denn Bella hat die Trennung immer noch nicht verwunden. Michael begegnet später am Abend im Hotel zwei Frauen, die wegen seines Vortrags da sind, und verbringt die Nacht mit einer von ihnen, der schüchternen Lisa, die ihm etwas Besonderes zu sein scheint (gesprochen von Jennifer Jason Leigh).

Michael Stone ist eine widersprüchliche Figur. Er verdient sein Geld mit angeblicher Menschenkenntnis, berät zum Beispiel Angestellte über den Umgang mit Kunden, die als Individuen wahrgenommen und gewonnen werden sollen. Doch für ihn selbst sind fast alle Menschen kaum zu unterscheiden. Seine Frau, der Taxifahrer, der Hotel-Manager, Bella – alle sprechen mit der gleichen Stimme (von Tom Noonan) und haben fast die gleichen glatten, ausdruckslosen Gesichter. Gespräche verlaufen formelhaft. Das Hotel heißt „Al Fregoli“, was auf das Pseudonym Francis Fregoli verweist, das Kaufman beim Schreiben des dem Film zugrunde liegenden Bühnenstücks verwendet hat. Fregoli-Syndrom ist auch die Bezeichnung für eine seltene psychische Störung, die in dem Wahn besteht, alle anderen Menschen seien eigentlich nur eine Person, die lediglich ihr Aussehen wechselt.

Michael sucht körperliche und seelische Nähe und ist doch unfähig, sie aufrecht zu erhalten. Er ist sensibel genug, Defizite zu spüren, aber nicht fähig, sich auf Andere wirklich einzulassen und etwas von sich zu geben. Dazu kommt, dass Männer und Frauen anscheinend an das Zusammensein unterschiedliche Erwartungen haben. Jeder kennt das, aber hier wird es durch die Verfremdung auf den Punkt gebracht.

Der Zuschauer sieht die – realistisch gestaltete – Umwelt, hauptsächlich das Hotel, durch Michaels Augen und beobachtet ihn gleichzeitig: die wegen der Aufnahmetechnik leicht ruckelnden Bewegungen, die ein wenig gestauchte Figur, die ihn manchmal klein, rührend und komisch aussehen lässt. Ein Herr Jedermann in einer Durchgangssituation, der sich fragt: Was ist der Mensch? Was ist das Leben? Ist auch die Liebe nur eine vergängliche Illusion?

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