Als mir Matthias‘ »Narr 2016« vor zwei Tagen in den Mailbriefkasten flatterte und sein Spruch dazu, fand ich diese »Post« auch höchst inspirierend:
Das Normale ist
Nur der Durchschnitt des Wahnsinns
Wer nimmt euch noch ernst?
Matthias Mala
Mit einem befreundeten Kollegen sinnierte ich neulich ernsthaft darüber nach, ob nun die »Bewohner« in der psychiatrischen Einrichtung, in der er arbeitet, die »Ver-rückten« sind oder eher der Träger: Drei Viertel eines Mitarbeiter(innen)-Teams wurde dort fristlos gekündigt – wegen angeblichen Fehlverhaltens den Patient(inn)en gegenüber. Die einzige, die blieb, ist nun emsig bemüht, ihre neu errungene Machtposition weiter auszubauen.
Sind wir nicht alle ständig damit beschäftigt, unsere »Pfründe zu sichern«, gegenüber (vermeintlichen) Bedrohungen von außen und polieren wir nicht andauernd an unserem Image herum, mit dem Ziel, eine möglichst glatte und überlegene Fassade zu präsentieren? Wenn solches Tun noch mit genug Geld unterfüttert ist, dann kann es sogar Massen beeinflussen, wie derzeit im US-amerikanischen Wahlkampf (Donald Trump) zu beobachten ist.
Der ganz normale Wahnsinn …
ICH-Losigkeit
Und dann gibt es noch ein paar ganz Ver-rückte, die sich als »Mystiker« oder »Nicht-ICHs« bezeichnen und ihre Überlegenheit daraus ableiten, dass sie an den »Schwachsinn der getrennten Existenz« nicht mehr glauben wollen. Aus ihrer Perspektive sind alle anderen verblendet oder schlafen den süßen Schlaf der Unwissenheit. Nimmt die jemand ernst?
Jeder Wahrnehmende weiß aus eigener Erfahrung, dass es sehr ratsam ist, von einem selbst verschiedene Objekte im Alltagsleben zu erkennen, um mit ihnen so umzugehen, wie es persönlich Sinn macht und dem eigenen Wohle dient. Dabei meine ich nicht nur heiße Herdplatten oder heranfahrende Lastwagen. Auch ganz gewöhnliche Vorgänge, wie das tägliche An- und Ausziehen, Essen und Trinken, Kontakte mit Menschen, funktionieren nur, wenn ich mich als »getrennt« von gewissen äußeren Erscheinungen erleben kann.
Das gekränkte ICH
Am ver-rücktesten erscheint mir allerdings immer wieder das »gekränkte ICH«, wenn es im täglichen Leben auftaucht – was dauernd der Fall ist: Lebenspartner bezichtigen sich gegenseitig bösester Verletzungen – die keiner sehen kann – und entscheiden sich deshalb für getrennte Lebenswege. Sie tun das sogar, wenn ihre Allerliebsten (Kinder), sichtlich darunter leiden. Familienangehörige sprechen über Jahre hinweg kein einziges Wort mehr miteinander, weil es in ihrer gemeinsamen Geschichte irgendeinen »Vorfall« gegeben hat, der nicht verziehen wird. Ehemalige »beste Freunde« pflegen fortan Rache-Gedanken gegeneinander, weil irgendein schmerzhaftes Ereignis ihre Verbindung vergiftet hat.
Das gekränkte Ich macht anderen Menschen Vorwürfe, grenzt sich von ihnen ab und suhlt sich im eigenen Schmerz und Selbstmitleid. Es versucht, Mitstreiter auf seine Seite zu ziehen und Fronten zu bilden zwischen Guten und Bösen. So entsteht Leid, nur dadurch, dass ich MEIN Gekränkt-Sein zum Zentrum meines Universums – zu meinem ICH – erhebe. Ist das nicht wirklich verrückt?
Auf ein Neues …
Was wäre da neu in solcherlei menschlichen »Spielen«?
Mein Vorschlag ist die »Ent-Rückung«, manche nennen sie auch »Nicht-Identifikation«: Einfach das ver-rückte ICH-Spiel nicht mehr (oder anders) weiter spielen, wenn es mir nicht mehr gefällt!
In diesem Sinne wünsche ich allen hier mitlesenden Närrinnen und Narren ein gutes und ent-rücktes neues Jahr 2016.
Prost!
Gut, was du das über das gekränkte Ich schreibst. Auf solche Vorfälle von Kränkung treffe ich auch bei reifen Persönlichkeiten und staune dann. Wieso durchschauen diese Menschen, die so vieles erkannt und durchschaut haben, diese Kränkungen nicht? Solange sie sie nicht durchschaut haben, können sie sie nicht auflösen und leiden dann darunter. Ich selbst habe mir hierzu eine Kultur des Umgangs mit Schmerzen ersonnen. Wenn andere Menschen mich vermeintlich kränken, dann umhülle ich diesen Schmerz der vermeintlichen Kränkung mit meiner Achtsamkeit / Aufmerksamkeit. Ich lenke meinen Fokus dorthin und verweile darin ohne etwas zu tun. Dort verweilen, das ist es.… Weiterlesen »
Danke, lieber Wolf,
für deinen ausführlichen und persönlichen Kommentar zum „gekränkten Ich“.
Für mich ist auch das achtsame Verweilen bei dem, was schmerzt, der Schlüssel zur Auflösung. Wenn ich dabei bemerke, dass gewohnte und bekannte Schmerz-Abwehr-Muster (Flucht, Angriff, Erstarren) aktiviert sind, versuche ich, Inne-zu-halten und nicht nach diesen instinktiven „Programmen“ zu handeln.
Frei in meinen Entscheidungen, wie ich zukünftig mit ähnlichen Situationen umgehen möchte, fühle ich mich erst, wenn das Thema innerlich befriedet (durch) ist.
Du sprichst mir gerade aus dem Herzen Marianne…DANKE Das “ gekränkte Ich “ ist momentan sehr aktiv ( gewesen …hoffe ich ggg) Das “ gekränkte Ich“ ist voller Urwut…WUT….nicht gegen etwas gerichtet direkt…sondern die Wut begleitet eine innere Frage seit Jahr und Tag. Was ist das Wesen der Frau ? Sobald diese Frage von den Toten wieder erweckt wird…weil sich ein Mann nähert, den ich lieben will….wird er zum Objekt dieser Ungelöstheit und statt zu lieben und zu vertrauen… werde ich wütend und trampel auf der Liebe rum…und als Stellvertreter auf den Mann…die Männer…die Männerwelt… Dabei liebe ich das Wesen… Weiterlesen »
nach Sportunfall mit Amnesie freut sich eine mitlesende Närrin vor allem über das erneute Zurechtgerücktsein…
„Aus ihrer Perspektive sind alle anderen verblendet oder schlafen den süßen Schlaf der Unwissenheit. Nimmt die jemand ernst?“ Offenbar ja, denn es gibt da viele Lehrende mit einigem Gefolge, die alle drauf hoffen, durch Satsangs, Kurse, Bücher, Workshops (bald dann nicht mehr in DE, sondern lieber in Bali oder so…) ebenfalls dieses „ungetrennten“ Zustands teilhaftig zu werden. Von dem angenommen wird, man sei dann leidfrei, alle Probleme los – und hey, vielleicht ergibt sich ja sogar ein persönliches Status-Upgrade! „Ungetrennte Zustände“, SatChitAnanda, Unio Mystica – all das befreit nicht vom Miete-zahlen-müssen und schützt auch nicht vor Krankheit, Alter und Tod.… Weiterlesen »
Momentan habe ich einen Fall in der Familie, wo die Fähigkeit zur Ent-Rückung, liebe Marianne, vermutlich die geistige Gesundheit der Beteiligten gerettet hat. Mein Sohn und seine Freundin mussten sich drei Monate vor der Geburt meines Enkels darauf einstellen, dass das Kind aufgrund eines schweren Herzfehlers vermutlich nur wenige Stunden maximal ein paar Tage, leben wird, dass es eine Entbindung zum Tode sein wird. Das kleine Erdenwesen, ein wunderhübscher kleiner Junge mit viel Haar, war dann zwei Tage in den Armen seiner Eltern, bevor es am 28. Dezember starb. Die Eltern konnten das gut annehmen und dem Kind bei aller… Weiterlesen »
@Bobby Langer
Danke fürs Mit-Teilen – berührt mich freudig und schmerzlich zugleich!
Genau ins solchen Lebensmomenten kann sich zeigen, wie alltagstauglich die eigene spirituelle Praxis (geworden) ist, finde ich: wenn wir über unsere gewohnten ICH-Schablonen hinaus wachsen müssen, um einer besonderen Situation angemessen zu begegnen.
Das gekränkte Ich fühlt sich vielleicht besser, wenn es sich klar macht, dass auch der oder die Kränkende ein kränkbares und wahrscheinlich gekränktes Ich ist. Sich in den Anderen hineinversetzen – das sollte helfen, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen. Dann vergeht auch der Schmerz.
@Barbara
Genau! Hier geht es wieder mal um das verstehende Mit-Fühlen … (= aus welchem eigenen Verletzt-Sein heraus handelt der/die andere?)
Das wird allerdings erst möglich, wenn ich in einer Kränkungs-Situation meine Opfer-Rolle verlassen kann und damit auch den oder die Täter/in aus ihrer Rolle entlasse.
Apropos: Vor vielen Jahren gab es in der Connection mal einen guten Text über das „Drama-Dreieck“ in menschlichen Kränkungs-Situationen. Nachdem ich ihn im Archiv nicht gefunden habe, habe ich ihn auf meiner eigenen Website nochmal eingestellt. Klaus-Jürgen Becker: Täter-Opfer-Retter
„Sie tun das sogar, wenn ihre Allerliebsten (Kinder), sichtlich darunter leiden.“ Mit diesem Satz, liebe Marianne, enttäuschst Du mich. Ein gekränktes Ich IST ein Grund für eine Trennung. Keinem, wirklich keinem, am Allerwenigsten den Kindern, ist geholfen, wenn Partner nur deshalb zusammenbleiben, um ANDEREN, in diesem Fall den Kindern, einen Gefallen zu tun. Das Leid, das den Kindern durch ein Zusammenbleiben vermeintlich(!) erspart bleibt, wird auf andere Weise wiederkommen. Ist den Kindern etwa geholfen, wenn die Eltern aufgrund unterdrückter, nicht gelebter Gefühle (sprich: die „eigentlich“ FÜR eine Trennung sprächen) dann später vielleicht Depressionen oder Krebs entwickeln? Von den Schuldgefühlen, die… Weiterlesen »
Liebe Anja, danke für Dein Statement. Ich hatte extra die Rubrik „Humor“ mit angeklickt, damit erkennbar wird, dass diese Kurz-Darstellung auch satirisch gemeint ist. Als Handlungsanleitung für gekränkte Menschen, bzw. „moralische Keule“ war sie von mir auf keinen Fall gedacht. Kränkung ist ein essentielles Gefühl, das beachtet werden will. Wenn dies nicht geschieht, sondern die Kränkung aufgrund einer spirituellen Anmaßung beiseite geschoben wird (nach dem Motto: Gekränktsein ist nur etwas für spirituelle Anfänger) dann macht sie krank! Jetzt mal ganz ernst: Ich finde es befreiend, die Ich-Illusion der Kränkung als ein Konstrukt meiner Psyche zu erkennen, dem ich nicht unbedingt… Weiterlesen »
Liebe Marianne, Danke für Deine Antwort. Ich denke, es kommt tatsächlich auf die Art der Kränkung an, sprich: auf die Würdigung des Einzelfalls (danke hier auch für Deinen letzten Satz in Klammern.). Mit meiner zugespitzten Formulierung ging es mir darum, auszudrücken, dass man sich mit einer zu spirituellen Sichtweise bisweilen selbst ein Bein stellen kann. Es gibt Schmerzen, die einfach nicht „weg zu meditieren“ sind. Ein Treuebruch in einer Partnerschaft kann so ein Schmerz sein. Eine vorschnelle Reaktion ist niemals eine gute Lösung, egal in welchem Bereich. Es erfordert ein hohes Maß an „Bei-sich-Sein“, um in so einem Fall zu… Weiterlesen »
Mein Verletztsein dann weg zu rationalisieren, indem ich mir erkläre, dass mein Gefühl ja „nur“ mit traumatischen Erlebnissen zu tun hat, die ich in der Kindheit hatte, würde in die Sackgasse führen. Meinst Du nicht auch? Liebe Anja, wegrationalisieren funktioniert da ganz bestimmt nicht, da bin ich voll bei dir! Für mich geht es bei solchen Erfahrungen um die Kunst (Praxis) des Vergebens. Ich habe in dem Zusammenhang ganz viel von Jack Kornfield gelernt: https://www.youtube.com/watch?v=h-RBTd23RN0 In einem kleinen Buch über die Kunst des Vergebens (das es leider auch nur auf Englisch gibt) fasst er die Essenz davon so zusammen: „Vergeben… Weiterlesen »
Liebe Marianne,
danke für den anregenden Austausch und das Video.
Jack Kornfield ist ein toller charismatischer Mann.
Meine Meinung zum Inhalt:
Es ist erlaubt und OK, wenn Menschen (sich (gegenseitig)) verzeihen.
Es ist erlaubt und OK, wenn Menschen (sich (gegenseitig)) nicht verzeihen.
Nur sollten sie dann auch stark genug sein, die Konsequenzen daraus zu ziehen.
Herzlichst, Anja