Unter Computerleuten bedeutet »Abwärtskompatibilität« das Ausmaß, mit dem ein Programm oder Betriebssystem auch noch Dateien früherer Versionen lesen kann. Trotzdem wusste mein Freund, dem ich am Telefon dieser Tage sagte, dass ich mich mit »Abwärtskompatibilität« beschäftige, sofort, was damit gemeint ist, und erzählte mir von einer Einladung zu einer Party, wo er dieser Tage eine gute Stunde lang unter sich betrinkenden, schenkelklopfenden Spaßmachern war, die einander mit ihren Gags zu überbieten suchten, je lauter, desto besser. Mit »meine Freundin wartet auf mich« ergriff er dann die Flucht. Für ihn hatte dieses Beisammensein keine Tiefe. Es erinnerte ihn an eine Art von Fröhlichkeit, die er von früher her kannte, aber jetzt nicht mehr mochte. War er nun nicht mehr »abwärtskompatibel«?

Fortschritt

Wir Menschen entwickeln uns. Zwar entwickeln wir uns oft genug auch zur Demenz, aber meistens ist mit Entwicklung ein Vorgang gemeint, bei dem das Gegenwärtige dem Vergangenen irgendwie überlegen ist und das Zukünftige dem Gegenwärtigen. Obwohl auch Krebs und multiple Sklerose ein »progressives« Fortschreiten bedeuten, bezeichnen wir uns selbst noch immer gerne als progressiv und fortschrittlich, weil tief in uns die Überzeugung steckt, dass es im Lauf der Evolution, der individuellen ebenso wie der gesellschaftlichen und biologischen, letztlich doch aufwärts geht, vom Niederen zum Höhren. 

Ich darf

Durch die Beschäftigung mit der Degeneration oder Regression von Obama hin zu Trump und anderen politischen und kollektiven Vorgängen, auch in meinem privaten Umfeld, beeinflusst auch von Ken Wilbers Kommentar zu Trump, überfiel mich dieser Tage die Idee der Abwärtskompatibilität von höher Entwickeltem als etwas Rettendem in sehr vielen Bereichen. Wenn ich abwärtskompatibel bin, dann darf ich als transpersonaler Mensch persönlich sein, als Liebhaber des Unendlichen Grenzen ziehen, als Tantriker gierig sein, als Tropfen im Ozean Invasionen Einhalt gebieten und als Kosmopolit Grenzkontrollen befürworten.

Wütende Bodhisattvas

Ken Wilber sagt: Wenn du eine Stufe auf deinem Weg überwunden hast, solltest du immer auch noch alle früheren Stufen verkörpern können, andernfalls hast du diese Stufen noch nicht wirklich überwunden. Was wohl heißen muss: Wenn du als Mensch, der im Transpersonalen verankert ist, nicht auch zutiefst persönlich sein kannst, dann bist im Transpersonalen noch nicht wirklich verankert. Und wenn du als Bodhisattva nicht wütend und gierig sein kannst, dann bist noch nicht wirklich ein Boddhisattva und musst nochmal zurück auf diese niedrigen Stufen von Gier und Wut. 

Sex, Geld und Macht

Warum hat Nietzsches Buch »Also sprach Zarathustra« so wenig Resonanz erzeugt – oder so falsche Resonanz, wie die in rassistischen Kreisen? Warum entwickelt sich, im Sinne der Spiral Dynamics, das grüne Mem nicht hin zu Gelb, Türkis und Koralle, oder warum braucht es dazu so lange? Und warum verstricken sich Gurus in Skandale um Sex, Geld und Macht? Warum wird die Forderung nach Kommunikation »auf Augenhöhe« in unserer Zeit so vehement gestellt und wirkt damit doch oft verflachend, also den eigenen Zielen entgegen? Es hat mit der fehlenden Abwärtskompatibilität zu tun. 

Das Phänomen Trump

Wären die Wilberschen Grünen abwärtskompatibler, dann wären Trump & Co nicht gekommen, behaupte ich. Dann hätte Obama gegenüber seinen Gegnern – der Tea-Party, Netanyahu, dem militärisch-industriellen Komplex, der das Gefängnis auf Guantanamo erhalten wollte und viele anderen – auf den Tisch gehauen und gesagt: »Jetzt reicht’s!!!«. Anstatt auf alle immer freundlich, höflich, diplomatisch einzugehen. Als er mal auf einen Pressekonferenzseinen »anger translater« vorstellte, schien mir, als sei ihm dieses Defizit bewusst. Und dann wieder doch nicht. 

Gierige Tantriker

Sind fortgeschrittene Tantriker manchmal gierig oder aggressiv? Ja, das sind sie! Himmlische Entrückungen lösen das Menschliche ja nicht auf; und wenn doch, wäre das eine Verirrung. Ich kenne zwar mystische Ekstasen, in denen ich nichts mehr will, alles Begehren ist verschwunden, alles ist gut, reine Glückseligkeit. Aber ich kenne auch sexuelle Gier, immer noch, auch jetzt, als Ekstatiker, Mystiker und fortgeschrittener Tantriker: Dann will ich mich auf meine Freundin stürzen, sie packen und ficken. Ich weiß dabei aber, dass ich dann gierig bin, behaupte ich, und bin es mit Freude – und kann jederzeit daraus aussteigen. 

Der Mensch ist erst dann ganz Mensch, wenn er spielt

Wenn ich daraus aussteigen kann, dann ist es ein Spiel (übrigens genießt meine Freundin es). Es ist ein Spiel, aber authentisch, also ist es Gier. Oder umgekehrt, statt dem Habenwollen das Weghabenwollen: Wut. Manchmal bin ich sehr wütend und fühle mich davon belebt, energetisiert und bereit für einen Kraftakt, den ich ohne Wut nicht aufbringen würde. 

Die Fähigkeit zu solcher Regression in primitivere Zustände nenne ich jetzt mal, wortschöpfend, die Abwärtskompatibilität eines spirituell Entwickelten. Wenn wir das behalten: du und ich und alle die anderen spirituell Entwickelten, die den Frieden und die Liebe über alles wertschätzen, dann ist das doch viel besser als oben auf Wolke sieben schweben zu bleiben und von dort auf die Niederungen des Menschlichen hinunterzuschauen. Auf die, die es uns übel nehmen, wenn wird dort thronen, so hoch über ihnen. 

Sprachlos sein

Das gilt auch für den Spruch eines Aristokraten aus dem 18. Jahrhundert (könnte sein, dass es de La Rochefoucauld war), der sagte, die meisten Menschen hätten gar keine Gedanken, sondern die Gedanken hätten sie. Sie sind von ihren Ideen, Gedanken, Gefühlen und Vorstellungen besesssen, anstatt sie zu besitzen. Das ist Unfreiheit. Auch von dem Gedanken der Freiheit kann man besessen sein – und ist dann unfrei, denn ein freier Mensch würde seine Gedanken besitzen und nicht sie ihn. 

Abwärtskompatibel sollten wir auch im Umgang mit Sprache sein: fähig zum Enthusiasmus; wir sollten bei aller Bewusstheit auch Fan sein können von etwas. Und sogar noch tiefer: Wir sollten fähig sein, gar nichts mehr zu verstehen, so wie ein Kind, das noch keine Sprache erlernt hat.